Interview

"Darm mit Charme"-Autorin Giulia Enders hat nun den ganzen Körper im Blick

Giulia Enders hat nach dem Darm weitere Organe des menschlichen Körpers populärwissenschaftlich betrachtet und in einem neuen Buch erläutert.
Andre Wesche |
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Die Autorin und Ärztin Giulia Enders.
Julia Sellmann 2 Die Autorin und Ärztin Giulia Enders.
Die Autorin und Ärztin Giulia Enders.
Julia Sellmann 2 Die Autorin und Ärztin Giulia Enders.
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Mit ihrem populärwissenschaftlichen Sachbuch „Darm mit Charme“ brach die Ärztin Giulia Enders 2014 eine Lanze für ein oft unterschätztes Organ und traf damit den Nerv einer riesigen Leserschaft. Etwa acht Millionen Exemplare gingen weltweit über den Ladentisch. Nun legt die gebürtige Mannheimerin nach. In ihrem Werk „Organisch“ richtet die 35-jährige den Fokus auf Lunge, Gehirn, Haut und Muskeln und sie liefert verblüffende Einblicke in die Wirkungsweise des Immunsystems.

AZ: Frau Enders, hat Sie der Erfolg Ihres Buches „Darm mit Charme“ einigermaßen geplättet?
GIULIA ENDERS: Ich war auf jeden Fall überrascht. Beim Schreiben habe ich nicht darüber nachgedacht, ob das ein erfolgreiches Buch wird oder nicht. Und meine Schwester auch nicht. Es ging eher darum, ob wir gut finden, was wir da machen. Haben wir das Gefühl, dass das, was wir da abliefern, ordentlich ist? Aus Witz habe ich bei der Vorschau großspurig gesagt: Das Buch ist eigentlich nur für die Leute gedacht, die einen Darm haben. Insofern hat es vielleicht so halb gepasst.

Was für eine Beziehung haben wir zu unserem Körper?

Warum war jetzt die richtige Zeit, um nachzulegen?
Bestimmte Dinge sollten einfach mehr Leute wissen, als es jetzt der Fall ist. Bei „Organisch“ hat sich das ganz still angesammelt. Ich saß oft im Krankenhaus in der Sprechstunde, habe den Leuten zugehört, wie es ihnen geht, wo der Schuh drückt. Ich kann Sachen lindern oder dafür sorgen, dass die Verdauung flotter läuft. Aber dann ist da die Situation drumherum, wo jemand von einer 60-Stunden-Woche gestresst oder einfach einsam ist und sich auch noch dafür schämt. Oder sich total geniert, mir irgendwas zu zeigen, was beim Arzt aber einfach dazu gehört. Diese vielen kleinen Momente, die sich zusammenverdichten, haben zu vielen Fragen geführt.

Die Autorin und Ärztin Giulia Enders.
Die Autorin und Ärztin Giulia Enders. © Julia Sellmann

Zum Beispiel?
Was für eine Beziehung haben wir mit diesem Körper? Und was hat die Außenwelt mit ihrer ganzen Digitalisierung und diesem Wirtschaftssprech, wer was wert ist und wer nicht, für einen Einfluss darauf? Ich habe gemerkt, dass es bei mir etwas auslöst, wenn ich Sachen über den Körper lese oder kleine Videos anschaue, wo man eine Immunzelle sieht, die alle Zellen abtastet. Da kommt in mir eine Dankbarkeit und Liebe auf. In all diesen Momenten habe ich gemerkt, dass man über Wissen vielleicht ein anderes Gefühl zu seinem Körper aufbauen kann.

In „Organisch“ führen Sie die Leser durch ihren Körper, die Lunge, das Hirn, das Immunsystem. Haben Sie an den Kapiteln parallel gearbeitet?
Es war eine durcheinandergewürfelte Reihenfolge, aber alles hintereinander. Das Gehirn war dann der letzte Teil. Ich habe fast ein Jahr pro Kapitel gebraucht, weil ich Sorgen hatte, dass ich das nicht gut genug verstehe. Ich bin keine Expertin für die jeweiligen Organe, anders als beim Darm, wo ich schon viel mehr wusste. Ich musste mich viel reinlesen und das hat einfach Zeit gebraucht. Ich musste manchmal mehrere Nächte über irgendetwas schlafen, bis ich gemerkt habe: Ah, so kann man das verstehen, deswegen macht dieses Organ das!

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Sie beginnen jeden Abschnitt Ihres Buches mit einer Episode aus Ihrem wahren Leben. Wie ist diese Idee entstanden?
Ich hatte am Anfang Schwierigkeiten, ins Schreiben reinzukommen, aus den eben genannten Gründen. Dann bin ich zu einer befreundeten Paartherapeutin gefahren und habe gefragt: Wie baue ich eine Verbindung zu einem mir total fremden Organ auf? Sie meinte: Erinnern die dich an Personen, mit denen du dich bereits verbunden fühlst? Das war eine super gute Frage. Es hat keine fünf Sekunden gedauert, da wusste ich schon, dass die Lunge meine Uroma ist. Dieses Weiche, was ich bei der Lunge ein bisschen passiv fand oder dieses sich an alle drumherum Anpassen. Beim Immunsystem war es dann ein Ort, an dem ich mich in meiner Kindheit absolut sicher gefühlt habe. Das war das Haus des besten Freundes meiner Oma. Ich habe überlegt: Warum haben wir uns da eigentlich alle so sicher gefühlt?

Und bei der Haut?
Da war es meine Oma, weil sie einfach wahnsinnig gut darin war, mit Menschen eine Beziehung und eine Verbindung herzustellen. Gleichzeitig konnte sie bei sich bleiben. Das ist eine Qualität, bei der ich mich heute immer noch frage, wie sie das so irre gut gemacht hat. Dadurch hatte sie auch immer einen Kreis an Leuten um sich herum, der sie geliebt und bewundert hat - und umgekehrt. Dieses gute Gleichgewicht zwischen sich selbst und dem Außen herstellen zu können, konnte niemand so gut wie sie.

"Ärzte können kein Körperwissen vermitteln"

Auch Ihre Mutter spielt eine Rolle.
Ja, bei den Muskeln, ganz klar! Sie war alleinerziehend. Sie hat zu Hause die Sachen angepackt und ist abends müde auf dem Sofa eingeschlafen. Ihr machten Dinge Freude, wenn sie Sinn ergeben. Beim Gehirn war es für mich meine Schwester und unsere Zusammenarbeit. Beim Gehirn unterschätzen die Leute alle möglichen Sachen: Das Schlafen, die Gefühle oder auch der Aspekt der Sucht, der gar nicht zu trennen ist vom Aspekt der Motivation. Die gehören kohärent zusammen.

Sie vermenschlichen Zellen und Organe im Interesse der Deutlichkeit. Können Sie sich vorstellen, von Kollegen hierfür kritisiert zu werden?
Ich habe für mich immer die Hoffnung, dass das Bild, das ich zeichne, wissenschaftlich akkurat ist. Wenn ich zum Beispiel sage, dass die Belohnungszellen abstumpfen, wenn man zehnmal hintereinander sein Lieblingslied hört, klingt es zwar vermenschlicht. Aber auf physiologischer Ebene ist es ganz exakt, was passiert. Die stumpfen ab, werden also weniger erregbar, um sich vor einer Übererregung zu schützen. Da habe ich das Gefühl, dass die Vermenschlichung okay ist, weil das menschliche Verb perfekt zur physiologischen Realität passt.

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Wünscht sich ein Großteil der Ärzteschaft, dass sich die Patienten intensiv mit dem eigenen Körper auseinandersetzen, etwa im Internet?
Wenn Wissen ohne einen dazugehörenden Rahmen gegeben wird, in den man es einsortieren kann, verursacht es manchmal mehr Angst bei den Menschen und mehr Arbeit bei der Ärzteschaft. Deswegen gebe ich nie einfach nur Tipps. Alles wird immer darin eingebettet, warum etwas überhaupt helfen kann und wie das im Körper funktioniert. Diese Atemtechniken, bei denen man nur gesagt bekommt, wie man langsam einatmet, stehen so nie im Buch. Wenn, dann steht immer dabei: Weil das Blut langsamer zum Herz fließt und das Herz dadurch gemächlicher arbeiten kann. Das merken die Nerven. Dadurch empfindet das Gehirn mehr Entspannung.

Wie bleiben Sie für Laien verständlich?
Ich versuche immer so tief zu gehen und dabei leicht zu formulieren, dass man das als lesende Person im Kontext einordnen kann. Bei meiner Arbeit im Krankenhaus habe ich gemerkt, dass es zu viel verlangt ist, wenn Ärzte und Ärztinnen auch noch Körperwissen vermitteln sollen. Der Arbeitsalltag ist teilweise so krass, dass das nicht machbar ist. Wir können nicht noch Wissenschaftskommunikation betreiben, 50.000 Artikel lesen und dann überlegen, wie man das schön formuliert und gleichzeitig eine Station schmeißen.

"Unser Gehirn ist besser als die KI"

Welches Forschungsgebiet ist für Sie aktuell interessant?
Für mich ist Schleim super spannend. Ich habe das Gefühl, dass das ein übersehendes Verbindungsglied ist, bei dem ganz viel zusammenkommt: Die moderne Nahrungsproduktion mit allen möglichen Zusätzen macht den Schleim viel flüssiger und durchlässiger, wodurch dann den Magen-Darm-Zellen ihre Schutzschicht fehlt. Dadurch können die viel angegriffener und sensibler sein. Und die Immunzellen reagieren viel eher allergisch auf etwas, weil es direkt an sie rankommt. Schleim wird von Hormonen, Stress und so vielen Umweltfaktoren beeinflusst. Wir haben die Bakterien und Magen-Darm-Zellen immer genauer untersucht. Den Schleim anzuschauen, also den Vermittler dazwischen, das passiert erst jetzt mehr und mehr.

Welche Entwicklungen erwarten Sie im Zuge der KI?
Auf der einen Seite bin ich manchmal echt beeindruckt, wenn ich testweise Probleme und Symptome von Leuten eingebe und dann schaue, was mir da ausgespuckt wird. Auf der anderen Seite höre ich die Diskussionen um KI und lese, dass sie uns Menschen ersetzen könnte. Aber dieser Aspekt, dass Menschen das Gefühl haben, von einer linearen kognitiven Leistung komplett ersetzt zu werden, bedeutet manchmal, dass wir denken, wir seien ein Gehirn und vielleicht noch ein Bildschirm und eine Tastatur. Dabei übersieht man, wie viel irre, komplexe Prozesse noch in den Menschen stecken. Auch im Gehirn macht das, was eine KI leistet, nur 10 bis 15 Prozent dessen aus, was ein Gehirn macht, verknüpft und zustande bekommt. Die Leute denken, sie seien nur ihr linear-logisches Denken. Aber wir Menschen sind so viel mehr.

 

Giulia Enders: „Organisch“ (Ullstein, 336 Seiten, 24,99 Euro)

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