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Boccaccio starb vor 650 Jahren: Er und sein Skandalbuch "Decameron" sind bis heute modern

Ein wahrer Freund der Frauen: Eine Biografie über Giovanni Boccaccio und eine Neuübersetzung des „Decameron“ sind erschienen, die zeigen, was er uns - über Erotik hinaus - bis heute zu erzählen hat.
von  Adrian Prechtel
Das „Decamerone“ wirkte Jahrhunderte lang in der Kunst weiter: Johann Anton Ramboux (1790-1866): Szene (Bleistift, Feder, Aquarell ), inspiriert von Bocaccio.
Das „Decamerone“ wirkte Jahrhunderte lang in der Kunst weiter: Johann Anton Ramboux (1790-1866): Szene (Bleistift, Feder, Aquarell ), inspiriert von Bocaccio. © Hessisches Landesmuseum Darmstadt / Wolfgang Fuhrmannek

Wenn man sich zur Vergangenheit umdreht, schaut man - im Falle von Giovanni Boccaccio - durch 650 Jahre auf ihn zurück. Und diese Jahrhunderte nachträglicher Erfahrungen, Veränderungen und Fortschritte wegzudenken, ist fast unmöglich. Und doch ist gerade dieser Florentiner, der am 21. Dezember 1375 mit 62 Jahren starb, uns bemerkenswert nah.

Das beginnt schon einmal mit der modern anmutenden Patchwork-Situation. Giovanni ist unehelich geboren und wächst bei seinem Vater auf. Der ist in Florenz Kaufmann und Banker in einem Privatbanken-Konsortium. Giovanni darf aufs Gymnasium. Dort - und mit Hauslehrern - lernt er auch Latein, die Hochsprache der Gebildeten. Aber er kommt auch mit der „Göttlichen Komödie“ in Kontakt, revolutionärerweise von Dante bereits auf Italienisch verfasst, dem jetzt auch von Intellektuellen gefeierten Volgare, der Volkssprache.

Giovanni Bocaccio (1313 - 1375).
Giovanni Bocaccio (1313 - 1375). © Wikimed

Der Vater will, dass der Sohn auch noch was „Anständiges“ lernt und schickt ihn - mit 14 Jahren - zur Auslandsfiliale der Florentiner Kaufleute nach Neapel. Er bleibt dort, bis er 27 Jahre ist und darf am dortigen Hof des Königs Robert von Anjou Bekanntschaften machen, nicht nur persönliche, sondern auch intellektuelle.

Der Vater ruft ihn zurück, denn es herrschen unsichere Zeiten: privat, weil sein Vater - wie viele andere - in finanzielle Schieflage geraten ist. Im Hundertjährigen Krieg, der zwischen England und Frankreich ausgebrochen war, wird England zahlungsunfähig, was in Florenz zum finanziellen Kollaps von Banken und der Stadt selbst führt. Außerdem muss sich Florenz - auch militärisch - gegen das Erstarken von Verona und Mailand wehren, Lucca in Schach halten und sich im Konflikt zwischen kaisertreuen und päpstlichen Staaten behaupten. Zu alledem begann eine Klimakrise - die kleine Eiszeit - mit Hungersnöten.

Geschichten erzählen von und in der Pandemie

Dann die größte Katastrophe: Die Pest taucht für Jahre auf. Unfassbare 40 Prozent der Bevölkerung sterben. 1348 wütet die Pandemie besonders stark. Die Opferzahlen sind derart hoch, dass man es mit Quarantäne-Maßnahmen versucht - und wer kann, verlässt die dichtbevölkerten Städte. Boccaccio - 35 Jahre alt - hat diese Erfahrung in einem der bedeutendsten Werke der europäischen Literaturgeschichte verarbeitet: dem „Decamerone“, der alle Zutaten eines Bestsellers hat. Der Roman ist intim, romantisch, erotisch: Sieben Frauen und drei Männer fliehen vor der Pest aufs Land in eine Villa. Hier holt sie aber nicht - horrormäßig - der Schwarze Tod ein, sondern sie verbringen die Tage mit einem Gesellschaftsspiel. Für jeden Tag (außer Sonn- und Feiertagen, denn es sind auch religiös empfindsame Damen dabei) ernennt man eine Königin oder König. Diejenige oder er dürfen das „Thema des Tages“ bestimmen. Jeder der zehn Anwesenden muss dann eine kurze Geschichte dazu erzählen.

Das Cover der prächtigen Neuübersetzung (Manesse Verlag): „Decameron“ von Giovanni Boccaccio, übersetzt von Luis Ruby
Das Cover der prächtigen Neuübersetzung (Manesse Verlag): „Decameron“ von Giovanni Boccaccio, übersetzt von Luis Ruby


Wer heute die neue Übersetzung von Luis Ruby liest, wird erst einmal einer harten Probe unterzogen: Boccaccios Vorrede. Die ist, um gleichmal zu zeigen, was er drauf hat, unfassbar gewunden, verschachtelt. Hierin erklärt Boccaccio, warum und in welcher Situation er sein „Decameron“ schreibt: Er selbst habe amouröse Niederlagen erlebt und des Trosts von Freunden und Frauen bedurft. Jetzt soll dieses Buch Amüsement, aber eben auch Trost für andere in ähnlichen Situationen sein. Denn man kann sich zwar auf leidenschaftliche, oft schmerzliche Abenteuerfahrt im Leben begeben, aber muss auch zurückkehren in ruhigeres Fahrwasser, und dann - trotz alledem - vor allem heiter und dankbar zurückschauen.

Luis Ruby beim Italienischen Literaturfestival in München.
Luis Ruby beim Italienischen Literaturfestival in München. © ILF

„Boccaccio schreibt in einem Italienisch der damaligen Kaufleute“, erklärt der Übersetzer Luis Ruby: „Vieles - vor allem Literarisches und Religiöses - läuft aber noch auf Lateinisch. Und Boccaccio nutzt auch oft lateinische Satzkonstruktionen. Aber er spielt als Pionier schon mit dem Italienischen, erfindet auch neue Wörter. Im ,Decameron’ spielt er auf allen Klaviaturen: vom hohen Stil, über feine Ironie, und je nachdem, wer gerade spricht, geht es bis zu einer klaren Erzählsprache oder volkstümlichen Rede. Das wollte ich alles in seiner Vielfalt auch im Deutschen abbilden - mit allen Raffinessen, Rhythmus, Binnenreimen“, sagt Ruby.

Brechen des Keuschheitsgelübdes: Jede zehnte Geschichte

Man kann als Leser natürlich auch gleich zur Sache gehen, über die Einleitung des ersten Tages hinaus. Denn nach eigener historischer Einführung und detailreicher Beschreibung der Pest - man würde heute von Traumatisierung sprechen - liegen zehn mal zehn Kurzgeschichten vor einem.

Am ersten der zehn Erzähltage wurde noch kein festes Thema für die intime Landgesellschaft festgelegt, jeder kann also frei drauflos erzählen. Die zehn Novellen des zweiten Tages haben Menschen zu Thema, denen Glück im Unglück widerfahren ist. Auch Tag drei stimmt positiv: Es geht um Personen, die etwas Heißersehntes doch noch bekommen oder etwas wiederfinden. Das Gegengewicht am Tag vier: Unglückliche Liebesgeschichten! Der Pendelschlag schwingt zurück am Tag fünf: Die Königin des Tages, Fiammetta, bestimmt: Jetzt mal Liebespaare, die zusammengekommen sind, auch wenn erst einmal ein Unglück sie trennte.

Brunelleschis Kuppel prägte zu Lebzeiten Bocaccios noch nicht die Silhouette von Florenz, aber den Palazzo del Podestà gab es schon
Brunelleschis Kuppel prägte zu Lebzeiten Bocaccios noch nicht die Silhouette von Florenz, aber den Palazzo del Podestà gab es schon © Museo Nazionale


Der sechste Tag feiert geistige Schlagfertigkeit, die einen aus einer brenzligen Situation befreit. Eine der bekannteren Geschichte taucht hier auf: Donna Filippa ist des Ehebruchs angeklagt, was tödlich enden kann. Sie überzeugt den Richter aber, dass die Liebschaft notwendig gewesen sei, da ihr Mann sie nicht habe befriedigen können.

Ein Setting wie bei Rosamunde Pilcher 

Überhaupt merkt man, warum das „Decameron“ lange auf dem katholischen Index stand und zensiert wurde. Aber das „Decameron“ wurde ein Jahrhunderte langer Bestseller. Die Geschichten im fast Rosamunde-Pilcherschem Rahmen einer patrizischen Landvilla mit Picknick, Abendgesellschaften, Musik, Tanz und Gesang sind frech und allumfassend: Streiche, Betrügereien oder Liebestollheit von hohen Herren, Klerikern oder Stallburschen. Könige und Adelsdamen, Pfennigfuchser und Neureiche, Priester und Mönche hegen listige Gedanken. Und wenn auch der sexuelle Akt selbst nicht beschrieben wird, geht es oft zur Sache. Der Anteil an Geschichten, in denen ein Keuschheitsgelübde gebrochen wird, liegt bei satten zehn Prozent. Ehebruchsgeschichten machen ein Viertel der Erzählungen aus - was nahelegt, dass sie gang und gäbe waren. Zufall und Glück spielen in den Verlauf der Episoden oft mit hinein, aber eben auch Intelligenz und Geist bringen Wendungen.


Boccaccio selbst ist dabei ein Frauenversteher und Feminist, nicht nur weil hier die Quote der Erzählerinnen und Erzähler 7:3 zugunsten der Frauen ist. Gleich zu Beginn gibt er zu, dass es Frauen schwerer haben als Männer, die (meist) berufstätig sind, abends ausgehen können und sich so besser ablenken können von Frust oder verlorener Liebe. Frauen seien da leider eingeschränkter durch gesellschaftliche und familiäre Zwänge. Dafür hält Boccaccio sie für empfindsamer, schwärmerischer, aber dadurch auch trostbedürftiger.

1492 ershien in Venedig eine der vielen Ausgaben von „Decamerone“: Hier mit den zehn Gästen im Landhaus als Isllustration und dem „König“ des Tages.
1492 ershien in Venedig eine der vielen Ausgaben von „Decamerone“: Hier mit den zehn Gästen im Landhaus als Isllustration und dem „König“ des Tages. © imago stock&people

Die größte Tugend: Großmut und Großzügigkeit

Der siebte Tag, geleitet von einem Mann (Dioneo), bringt dann zehn Geschichten, in denen Frauen ihren Ehemännern Streiche spielen - sei es als Notausreden oder Liebesabenteuer. Mit Streichen, auch üblen und harten, geht es weiter, dann folgt wieder ein Tag freier Themenwahl. Abgeschlossen wird das ganze mit dem ethisch hochstehenden Thema „Großmut und Großzügigkeit“.

Übrigens kommt Boccaccio selbst versteckt vor. Man vermutet ihn in der Person des Dioneo, was nicht ganz uneitel „neuer Gott“, bedeutet. Dioneo hat - im Gegensatz zu der wild durcheinandergewürfelten Reihenfolge der Erzähler - immer die Schlussgeschichte eines Tages, ohne deshalb das letzte Wort zu haben. Und es gibt eine Dame, Fiammetta - das Flämmchen, was im Italienischen keinen verniedlichenden Klang haben muss. Sie ist versteckt - und das geht aus Briefen und anderen Werken hervor - eine Angebetete oder Geliebte Boccaccios: die neapolitanische Adlige Maria d’Aquino.

Keine Mücke sticht

Dioneo hat die zehnte, also seine Geschichte an seinem siebten Tag als Bestimmer beendet. Er singt mit Fiammetta noch eine Weile bis zum Abendessen. Dann setzt man sich an die von Bediensteten vorbereiteten Tische unter dem Gesang von tausend Zikaden, von der milden Abendbrise umfächelt und von keiner Mücke gestört und speist ruhig und fröhlich. Als die Tafel aufgehoben war, gehen alle spazieren und unterhalten sich und kehren bei Einbruch der Dunkelheit zu dem schönen großen Landhaus zurück. Nachdem man hier die Mühe des Weges mit Wein und Keksen verscheucht hat, beginnt man zu tanzen - zur Schalmei und anderer Musik. Eine Frau wird noch gebeten, etwas zu singen.

Das Lied lässt die Gesellschaft vermuten, dass Filomena von einer neuen Liebe gefesselt sei, und weil man meint, herausgehört zu haben, dass sie mehr als einen bloßen Augenblick gekostet hat, preist man sie glücklich, manche beneiden sie ein wenig. Dann meint die Königin des folgenden Tages, man solle den Geschichtenreigen unterbrechen, denn morgen sei Freitag. Allen gefällt die Erinnerung an die Bedeutung des Freitags im Lichte des Karfreitags, und weil es schon spät ist, geht man zu Bett.

Nach seinem „Decameron“ - dem ersten großen Prosawerk in italienischer Sprache - Dante hatte seine „Commedia“ noch in Versform gebracht - hat Bocaccio noch weitergewirkt in Florenz, Griechisch gelernt, Homer verbreitet und eine öffentliche Großlesung der „Göttlichen Komödie“ seines Vorgängers veranlasst. Selbst aber hat er mit dem „Decameron“ die „irdische“ Komödie geschaffen, und ist - mit seinem Freund Petrarca und Dante - einer des Dreigestirns, das das Mittelalter beendete und den Menschen in den Mittelpunkt rückte: im Falle Boccaccios das wirkliche, saftige, moralisch hin und hergerissene Leben. Das ist zeitlos, sogar sehr modern: in weiter Ferne, so nah.

Franziska Meier „Giovanni Boccaccio - Dichter in schwarzen Zeiten“ (Beck, 415 S., 32 Euro)

Boccaccio: „Decameron“, Neuübersetzung von Luis Ruby (prachtvoll, kommentiert und bebildert, Manesse, 880 S. 98 Euro).

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