Nach dem Kinobesuch von "A Complete Unknown": Bob Dylan lesen
In seiner Autobiografie "Chronicles" beschreibt Bob Dylan, wie er im Oktober 1961 im Alter von 20 Jahren bei Columbia Records einen Vertrag unterzeichnet. Danach wird er zum Leiter der Presseabteilung geschickt, der einen Lebenslauf erstellen soll. Dylan tischt einen Haufen Lügen auf, denn "ich hatte kein Bedürfnis, irgendwem, irgendwas zu erklären".
Das beste Buch über Dylan schrieb Dylan
Diese Haltung hat Dylan sechs weitere Jahrzehnte verteidigt und so viele Nebelkerzen wie möglich geworfen. Dies vorausgesetzt, sollte niemand Aufklärung letzter Geheimnisse von James Mangolds Film "A complete Unknown" erwarten. Vor allem, da der Regisseur mit Dylan das Drehbuch Satz für Satz durchgegangen ist.

Die im Netz von Dylanologen erstellten "Fehlerlisten" kann man schulterzuckend ignorieren (oder sich Martin Scorseses Doku "No Direction Home" anschauen). Den entscheidenden Satz zu Mangolds Film hat ohnehin Elijah Wald gesagt, auf dessen akribischem und unbedingt empfehlenswerten Sachbuch "Dylan goes electric" der Film basiert: Der Film sei voller Dinge, die so nie stattgefunden haben, erzählte er dem "Guardian", aber er fühle sich richtig an.
Mit Timothée Chalamet in "The church of Bob"
Trotz des rätselhaften Künstlers, oder gerade deshalb, gibt es angeblich weit über 1000 Bücher über Bob Dylan. Wer also nun nach dem Kinobesuch wie Hauptdarsteller Timothée Chalamet ein "humble member in the church of Bob" geworden ist, kann sich den Rest seines Lebens mit Dylans gewaltigem musikalischen Ausstoß beschäftigen und einer ganzen Bootleg-Industrie.
Ein paar Bücher sollte die neuen Kirchenmitglieder aber auch kennen. Zuvorderst natürlich Dylans "Chronicles", deren "Volume One" im Jahr 2004 erschien. Das angeblich als Trilogie geplante Erinnerungsprojekt kam nie über den ersten Teil hinaus, aber der hat es in sich. Dylan beleuchtet punktuell einzelne Szene in seinem Leben und erzählt auch, dass er seiner Jugendbibel, Jack Kerouacs "On the Road", mit der Ankunft in New York 1961 entwachsen war. "Die atemlose, dynamische Bop Poetry, die Jack aus der Feder floß, gefiel mir zwar immer noch, aber jetzt wirkte die Romanfigur Moriarty deplaziert und sinnlos - wie jemand, der zur allgemeinen Verblödung beiträgt."
Woody Guthries Lebenserinnerungen "Bound for Glory" besetzten fortan seinen Platz im Herzen. Gedichte von Rimbaud aber auch von Allen Ginsberg beeinflussen den jungen Songwriter. In Dylans "Chronicles" finden sich auch die liebevollsten Zitate über die beiden Frauen, die Anfang der 60er Jahre entscheidend für seine persönliche und politische Entwicklung waren.
Über Joan Baez schreibt er: "Ihr Anblick berauschte mich. Und dann erst ihre Stimme. Eine Stimme, die böse Geister austrieb. Es war, als sei sie von einem anderen Planeten herabgestiegen."
Wie Bono Bob Dylan rettete
Und Suze Rotolo, mit der er drei Jahre lang sein Leben teilte, erhält ebenfalls eine hymnische Würdigung: "Wer mit ihr Bekanntschaft schloß, lernte ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht kennen. Ihr Lächeln konnte einen ganzen Straßenzug erhellen, und sie war überaus lebhaft und von einer ganz besonderen Sinnlichkeit - wie eine zum Leben erwachte Skulptur von Rodin."
Außerdem erfährt man in "Chronicles", wie Bono von U2 Ende der 80er Jahre Dylan aus einer künstlerischen Krise half, indem er ihm die Arbeit mit dem Produzenten Daniel Lanois empfahl. Das Kapitel über die Entstehung des Albums "Oh Mercy" ist ein Glanzstück in Dylans Buch.
Aber welche Biografie sollte man auswählen aus dem nicht überschaubaren Fundus? Natürlich Robert Sheltons "No Direction Home", denn der Journalist der "New York Times" war der erste, der nach einem Auftritt in Gerde's Folk City am 29. September 1961 ein Porträt über den damals 20-Jährigen Künstler veröffentlichte und mit dazu beitrug, dass dieser einen Plattenvertrag bekam.
Die beiden blieben eng befreundet. Shelton erlebte Dylans kometenhaften Aufstieg so hautnah mit wie kein anderer Journalist, folgte ihm auf Tourneen, bekam lange Einzelinterviews und seltene Einblicke in Dylans Seelenzustand und machte dennoch einen entscheidenden Fehler: Er wartete viel zu lange und schloss sein Buchprojekt erst 1986 ab, weil er bis dahin allen neuen Volten Dylans folgte, bis er realisierte, dass dieser Künstler niemals abgeschlossen zu fassen sein würde.
Als Bob Dylan den Rap erfand
Sein in deutscher Übersetzung immerhin 700 Seiten starkes Buch ist dennoch das Standardwerk, an dem sich nachfolgende Autoren bedienten. Und wenn es auch einigermaßen erschöpfend ist, seitenlangen Abschriften von Pressekonferenzen zu folgen, so erfährt man durch Sheltons Buch auch, wie ungeheuer schlagfertig, trotzig und witzig Dylan war (oder noch ist?).
Aber wem das alles zu aufwendig ist, dem sei zumindest der "Rough Guide to Bob Dylan" von Nigel Williamson ans Herz gelegt. Mit großem Respekt aber auch britischem Humor nähert sich der Dylan-Fan seinem Idol an. Höhepunkte aus dem Leben erläutert er knapp und kenntnisreich, dazu gibt es Listen und Beschreibungen der Songs und Alben. Und Williamson nennt Dylans "Subterranean Homesick Blues" den ersten Rap-Song der Musikgeschichte.
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