Kritik

Was "Blinde Flecken" von Chiara Valerio zum perfekten Ferien-Buch macht

Der Roman der italienischen Schriftstellerin rekonstruiert Stück für Stück Leben und Vergangenheit einer ungewöhnlichen Frau, die in ihrer Badewanne ertrank.
von  Roberta De Righi
Sonnenuntergang am Strand von Scauri, dem Schauplatz des Romans von Chiara Valerio.
Sonnenuntergang am Strand von Scauri, dem Schauplatz des Romans von Chiara Valerio. © IMAGO/Pond5 Images

Vittoria ist eine Frau von lässiger Eleganz, zugewandt und zugleich unergründlich. Eine Dame von Welt, die Konventionen abschüttelt und sich Understatement leisten kann. Als sie in den 1970er-Jahren zusammen mit der wesentlich jüngeren Mara nach Scauri zieht, einen Badeort zwischen Rom und Neapel, kommt sie in der kleinen Gemeinde gut an, und ihr stets offenes Haus mit dem paradiesischen Garten wird zum alle Schichten verbindenden Treffpunkt.

Vittoria ist der Mittelpunkt in Chiara Valerios Roman „Blinde Flecken“, der jetzt auf Deutsch erscheint. Doch am Anfang der Geschichte steht das Ende: Vittoria wird tot im Bad aufgefunden. Wieso ertrinkt eine ausgezeichnete Schwimmerin in der Badewanne?

Die Anwältin Lea, lose bekannt mit der Verstorbenen, glaubt nicht an einen Unfall, beginnt Nachforschungen anzustellen und die blinden Flecken in Vittorias Biografie aufzuspüren. In Italien schaffte es die promovierte Mathematikerin (geboren 1978) mit diesem Buch auf die Shortlist des Premio Strega. Hierzulande erschien erst 2024 „Kein Herz, Nirgends“ im kleinen, feinen Nonsolo-Verlag.

„Blinde Flecken“ von Chiara Valerio: Urlaubslektüre spielt auf anmutiger Provinz-Bühne

Aus Leas Perspektive rekonstruiert Valerio Stück für Stück Leben und Vergangenheit einer ungewöhnlichen Frau, die sich hervorragend mit Heilpflanzen auskennt, am liebsten Kir Royal trinkt, aber das beschauliche Küstenstädtchen der pulsierenden Metropole vorzieht. Und man wird als Leserin schnell feststellen, dass hier mal wieder nichts ist, wie es scheint.

Weiterhin treten neben den prägenden weiblichen Charakteren auf dieser anmutigen Provinz-Bühne auf: Halbwüchsige Jungs, die sich um ein Mädchen prügeln, ein recht fortschrittlicher Priester, ein antifaschistischer und homosexueller Bahnhofsvorsteher, ein zwielichtig-jovialer Anwalt sowie, zum Begräbnis, die bisher unbekannte, steinreiche Familie der Toten.

Eng mit Leas Recherchen verwoben ist dabei ihr eigenes Erleben und ihre Geschichte. Sie hat es aus kleinbürgerlicher Familie geschafft, Jura zu studieren, ist mit Mann und den zwei Töchtern aber dennoch in ihrem Geburtsort geblieben. Und sie reflektiert die Faszination, die die Tote auf alle, auch auf sie selbst ausübte.

Die italienische Autorin Chiara Valerio.
Die italienische Autorin Chiara Valerio. © Laura Sciacovelli

Was "Blinde Flecken" von Chiara Valerio zum perfekten Ferien-Buch macht

Der Roman ist ein Genre-Mix aus Krimi, Liebesgeschichte und Gesellschafts-Porträt - und das perfekte Ferien-Buch. Man schaut in ein schillerndes Kleinstadt-Kaleidoskop mit Abgründen. Chiara Valerio selbst ist in Scauri aufgewachsen. Viele der von ihr beschriebenen Lokale und Läden gibt es wirklich. Einige der Figuren auch, aber die Hauptprotagonistinnen sind erfunden.

„Blinde Flecken“ ist dialogreich und atmosphärisch dicht, mit einer Story, die sich eher plätschernd entwickelt. So feinsinnig in der Beobachtung und voller literarischer Anspielungen der Roman ist, so phrasenhaft klingt allerdings mancher Dialog. Doch mindestens genauso wesentlich wie die Figuren ist der geweitete Blick über die flachen Dächer zum Tyrrhenischen Meer bis nach Ischia und Ponza.

Chiara Valerio: „Blinde Flecken“ (Kein & Aber, 256 S., 24 Euro)

Ferien-Lektüre
mit Abgründen:
Chiara Valerios Roman „Blinde Flecken“

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