Avantgardistische Lebenshilfe

Manuel Niedermeiers berührender Künstlerroman:"Das ist einer, der lebt!"
Katrin Kaiser |
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Der 1984 in Regensburg geborene Schriftsteller Manuel Niedermeier.
Foto: Benjamin Zibner Der 1984 in Regensburg geborene Schriftsteller Manuel Niedermeier.

Wie besessen performt ein Schriftsteller über Webcam vor seiner Online-Community. Um seine Energie hoch und sich bei Laune zu halten, kokst er nebenbei. Er erzählt von den aufsehenerregenden Aktionen des Avantgarde-Dichters Arthur Cravan, der, wie es der Zufall will, genau 100 Jahre vor ihm selbst geboren wurde.

Das ist die Rahmenhandlung von Manuel Niedermeiers neuem Roman. "Das ist einer, der lebt!", zeichnet zunächst das Bild eines getriebenen, etwas überheblichen Intellektuellen.

Von Kapitel zu Kapitel entwickelt sich dieser berührende und zugleich wunderbar ästhetisch konstruierte Roman jedoch zunehmend zur Geschichte eines feinfühligen jungen Mannes, der noch immer unter den emotionalen Wunden seiner Kindheit leidet. Vor allem aber kämpft er darum, mit dem viel zu frühen Verlust seiner großen Liebe und Mutter seiner beiden Söhne fertig zu werden.

Diese Frau, Malgorzata, kam als 17-jährige Austauschschülerin aus Polen zum ersten Mal nach Berlin und kehrte später als Literaturwissenschaftlerin zurück. Sie ist lebendig, eigensinnig und stark. Dem Protagonisten Ralf bietet sie Halt und Führung in einer Welt, in der er sich auch als Erwachsener noch oft verloren fühlt.

Die beiden leben als leidenschaftliches, hippes junges Literatur-Pärchen im Berlin der 2010er Jahre. Die historischen Avantgarden und Arthur Cravan, der für Ralf seit frühster Jugend Fixstern und Anker ist, spielen auch in seiner Verbindung zu Malgorzata eine wichtige Rolle: Sie beschäftigt sich, bereits bevor sie Ralf kennenlernt, mit Cravans Lebensgefährtin, der Dichterin Mina Loy, und forscht über die Frauen der Avantgarde. Das Liebespaar der Gegenwart erscheint als eine Art Spiegelung des historischen Liebespaares.

Mit beeindruckender Leichtfüßigkeit gelingt es Manuel Niedermeier, die beiden Geschichten organisch miteinander zu verweben. Das Ergebnis ist ein cooler, kunstsinniger und zugleich tiefgründiger Roman, dessen Lektüre Spaß macht und tief bewegt.

Wie schon in Niedermeiers Debüt "Durch frühen Morgennebel" (2014 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur ausgezeichnet) über einen Fotografen, der ungeplant den tödlichen Unfall eines Freundes fotografiert, liegen auch im aktuellen Roman Leichtigkeit und Tragik, Leidenschaft und Schmerz nah beieinander.

Mit Malgorzatas Tod gerät für Ralf alles aus den Fugen. Wie früher bei den Verletzungen in seiner Kindheit und Jugend hilft ihm die Fokussierung auf sein großes künstlerisches Vorbild Arthur Cravan, in irgendeiner Form wieder Boden unter den Füßen zu finden. Der Avantgarde-Dandy Cravan, der im Europa und Amerika des frühen 20. Jahrhunderts für Furore sorgte, ist für Ralf immer wieder eine Art Vehikel, um einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen. Cravan ist Rebellion gegen die Eltern, Provokation. Und er ermöglicht es Ralf, andere Geschichten voller Leben zu erzählen, solange er noch nicht bereit ist, in seine eigene Geschichte einzutauchen.

Dem Publikum schildert Ralf beeindruckende Szenen aus Cravans Leben, bevor er sich an Schlüsselszenen aus seinem eigenen Leben wagt. Seine Söhne, so stellt er zu Beginn des Buches schmerzvoll fest, wissen mehr von Cravan als von ihrer eigenen Mutter. Umso spannender ist es, als Ralf am Ende immer mehr zu seinem eigenen dumpfen, übermächtigen, alles verschlingenden Schmerz über Malgorzatas Tod durchdringt - und sich endlich bereit fühlt, mit seinen Söhnen darüber zu sprechen.

Künstlerisches Erzählen erscheint hier als Weg zur Heilung. Manuel Niedermeier sagt, an dem historischen Dichter Arthur Cravan habe ihn vor allem interessiert, "wie es ihm heute als Kunstfigur ergehen würde und ob Menschen, für die Kunst oder Literatur - in dieser absoluten Form - Mittelpunkt des Lebens sind, überhaupt noch zeitgemäß sind". In "Das ist einer, der lebt!" führt Niedermeier den sehr lesenswerten Beweis, dass es auch heute noch wunderbar, schmerzhaft und vor allem belebend sein kann, sich einem künstlerischen Prozess hinzugeben.

Manuel Niedermeier: "Das ist einer, der lebt!" (Penguin, 240 Seiten, 22 Euro)

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