Architektin Ingrid Krau: "Hört endlich auf zu bauen!"

München - Pest und Cholera - das war etwas aus grauer Vorzeit. Und die Spanische Grippe liegt so weit zurück, dass sie niemand mehr bewusst erlebt hat. Für Ingrid Krau war das Thema dennoch nie ganz aus der Welt. Der Großvater hatte die hoch virulente Influenza nicht überlebt und seine Frau mit zwei kleinen Kindern hinterlassen. "Wir Enkel mussten uns oft die Hände waschen", erzählt die Münchner Architektin. Doch auf diese Wiese hätte sie früh ein Gefühl für Hygiene entwickelt.
Buch "Corona und die Städte" von Ingrid Krau
Dass bei der Verbreitung von Seuchen das Zusammenleben auf engem Raum eine fundamentale Rolle spielt, hat sie dann bald an der Universität beschäftigt. Genauso, dass es umso dringender Freiräume und großzügige Grünflächen braucht, wie die Städtebauexpertin in ihrem Buch "Corona und die Städte" nun erneut fordert. Die Architektin, Jahrgang 1942, aus Berlin hat bis 2007 als Professorin für Städtebau und Stadtentwicklung an der TU München gelehrt
AZ: Frau Krau, Sie haben sich immer wieder in die Stadtplanungsdebatten eingebracht und gerade in München dafür plädiert, nicht gleich hysterisch auf jedes Hochhaus zu reagieren. Ist nicht diese Bauform in der Pandemie besonders heikel geworden?
INGRID KRAU: Das hat ein denkmalgeschütztes Beispiel in Lyon-Villeurbanne überdeutlich gezeigt. Die imposanten Hochhäuser, die Ende der 1920er Jahren für die Arbeiter gebaut wurden, galten lange als vorbildlich. Aber genau dort grassierte Corona in einem unfassbaren Ausmaß. Es gibt zu wenig Fahrstühle, die Erschließungsflure sind viel zu eng bemessen, um Geld zu sparen und jeden Quadratmillimeter fürs Wohnen auszunutzen.
Das ist heute nicht anders.
Ja, leider. Man darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn sich die Menschen im Fahrstuhl oder in den Gängen anstecken. Mir war immer wichtig, den Studierenden zu vermitteln, welche Verantwortung sie beim Entwerfen haben. Und gerade bei den alltäglichen Dingen, die oft gar nicht so sehr im Fokus stehen.
Architektin über Städtebau
Dass die Nachverdichtung kein Allheilmittel ist, wissen wir längst. Nun hat die Pandemie Nähe und Dichte erst recht infrage gestellt.
Das Thema hat mich schon als Assistentin Ende der 1960er Jahre an der Technischen Universität in Berlin beschäftigt. Wir haben den Zusammenhang von dichten Wohngebieten und der Ausbreitung von Seuchen aufgefunden. Als Covid in Wuhan zu wüten begann, war mir klar, dass uns dieses Thema wieder einholen wird. Aber es gibt ja keine Baubremse, wo das einmal lukrativ geworden ist. Wenn ich in München unterwegs bin, muss ich mich jedes Mal wundern, wo noch überall gebaut wird und man selbst einen "Spalt" mit völlig überteuerten Wohnungen füllt.
Der gefährlichen Dichte entkommt man also nur mit Geld?
Für die Stadt Wien habe ich 2005 die Hochhäuser in der Donaucity untersucht, die ab Mitte der 90er Jahre entstanden sind. Dort kam der Bauträger auf die grandiose Idee, ein paar Fahrstühle mehr einzubauen. Aber nicht, wie man das erwarten sollte. Für die billigen unteren fünf Etagen gab es einen eigenen Aufzug, dann einen weiteren für die folgenden acht Geschosse und einen dritten exklusiven Fahrstuhl für die Handvoll Menschen ganz oben in den Penthouse-Wohnungen. Wer auf dem Dach wohnt, lebt mit weitem Ausblick und mehr Sicherheit.
Als in Florenz die Pest gewütet hat, sind die Reichen in ihre Villa aufs Land gezogen.
Das beschreibt der Dichter Boccaccio in seinem "Decamerone" in aller Ausführlichkeit: Die adeligen Damen vergnügten sich in ihren Landvillen mit Geschichtenerzählen und waren sicher vor der Pest. Dass sich die bessere Gesellschaft schützen kann, hat Tradition.
Das Gegenstück dazu waren die dichten Armenviertel.
Heute haben Sie die Slums und in Lateinamerika die Favelas, die als Virenschleudern kaum zu übertreffen sind.
Trotzdem: Braucht eine gut funktionierende Gesellschaft nicht vor allem die Nähe?
Ja, natürlich, das geht aber nur, wenn man die Pandemie beherrscht. Da wir es nicht geschafft haben, den Klimawandel zu verhindern, müssen wir jetzt bluten - und uns zum Beispiel impfen lassen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in der Landschaftszerstörung, der Umweltverschmutzung und dem ganzen Raubbau der Ursprung von Pandemien liegt.
Und nun sind noch aggressivere Mutanten unterwegs. Wie werden sich die Städte verändern?
Wer sich mit den großen Seuchen beschäftigt, weiß, dass man von Mutanten ausgehen muss. Das ist alles wohl bekannt. Menschen sind aber erfindungsreich. Die Städte werden sich verändern, und ich glaube auch, wir haben jetzt den nötigen Aufwind für die Digitalisierung bekommen. Gerade im ländlichen Raum, den man etwa beim Netz-Ausbau sträflich vernachlässigt hat, wird viel passieren. Unter normalen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen wird es eine gewisse Entzerrung geben.
Aber das reicht doch nicht aus?
Nein, wir brauchen genauso in den Städten neue Konzepte. Zu sagen, wir müssen immer weiter bauen, damit es auch günstigen Wohnraum gibt, stimmt ja nicht. Das Bauen wird immer teurer, es wird immer luxuriöser, weil der Preis für den Grund immens ansteigt. Deshalb lautet mein Plädoyer: Hört endlich auf zu bauen, leistet Euch das notwendige Grün auf den letzten Freiflächen, dann könnt Ihr wenigstens vor der nächsten Pandemie bestehen.
Nun reißt der Zuzug in die Städte ja nicht ab. Wie kann München darauf sinnvoll reagieren?
In der Pandemie haben wir die Erfahrung gemacht, dass Homeoffice in vielen Fällen funktioniert und dass wir uns fantastisch durch die elektronischen Medien verständigen können. Selbst am Stadtleben kann man von der eigenen Wohnung aus teilhaben, indem man sich per E-Mail oder Zoom austauscht und Livestreams anschaut. Das hilft, den ganz großen Druck, der auf Städten wie München lastet, zu reduzieren. Das wird aber nicht genügen. Ich denke an das Beispiel Berlin, da lassen sich viele in der Uckermark nieder und kämpfen in den Gemeinden dafür, dass sie eine bessere Infrastruktur bekommen. Allerdings muss das auch politisch gewollt sein.
"Die neue Normalität ist für mich ein Aufbruch in neue Datenwelten"
Es gibt aber auch viele Menschen, die von den digitalen Vorzügen nicht profitieren. Nehmen Sie den Dienstleistungsbereich. Der Mitarbeiter in einem Lieferservice oder eine Krankenschwester können nicht in einem verlassenen Dorf in Niederbayern wohnen, weil es da viel Platz für wenig Geld gibt.
In meinem Gedankenspiel ziehen Leute aus der Stadt ins Umland, wo es mehr Grün und bessere Luft gibt. Sie lassen Wohnungen zurück, in die auch Boten, Krankenschwestern und Polizisten einziehen können.
Ihr Buch hat den schönen Untertitel "Auf der Suche nach einer neuen Normalität". Wie sieht sie aus?
Die neue Normalität ist für mich ein Aufbruch in neue Datenwelten. Sie müssen aber durch Kultur und Mitmenschlichkeit diszipliniert werden, wobei es das kleine Chaos zu bewahren gilt. Man liest überall von der Rückkehr zur Normalität und wünscht sich, dass zum Beispiel der Einzelhandel so bleibt, wie er ist. Das wird aber nicht der Fall sein, das müssen wir uns klar machen. Wir werden weiter konsumieren, aber wir brauchen weniger davon und werden mit unseren Ressourcen sparsamer sein müssen. Es ist nur zu befürchten, dass die sozialen Gegensätze noch größer werden. Es gibt zu viele Leute, die zu viel Geld verdienen, und es gibt zu viele Leute, die zu wenig haben. Was uns die USA vorleben, das könnte uns auch passieren.
Muss sich unser Verständnis von Urbanität verändern?
Ja, wir brauchen weniger davon im Sinne eines Nebeneinander, mit dem man sich wortlos in den Fußgängerzonen zur Schau stellt; stattdessen brauchen wir mehr tatkräftiges Miteinander.
Ingrid Krau: "Corona und die Städte. Suche nach einer neuen Normalität" (Oekom Verlag, 120 Seiten, 16 Euro)