Brutalstmöglich abgerechnet

Sibylle Lewitscharoff schrieb kein gequältes Familienerinnerungsbuch, sondern eine groteske Abrechung mit dem Vater und seiner Heimat
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Sibylle Lewitscharoff schrieb kein gequältes Familienerinnerungsbuch, sondern eine groteske Abrechung mit dem Vater und seiner Heimat

Bei Konzerten slawischer Sängerinnen drängt sich manchmal die Frage auf, wieso Ost-Frauen immer die nuttigsten Fetzen aus dem Ramsch ziehen. Sibylle Lewitscharoff kann dieses Rätsel zwar nicht lösen, aber sie hat es wenigstens zur Beantwortung durch künftige Generationen aktenkundig gemacht.

Hass ist ein starker Treibstoff für Literatur. Der Roman „Apostoloff“ kippt auf die Leiche eines toten Vaters noch das unter Schriftstellern beliebte Genre einer katastrophalen Reise in ein scheußliches Land als Brandbeschleuniger drauf. Weil die Autorin wie ihre Erzählerin der Verbindung eines Bulgaren mit einer Schwäbin entspross und ebenfalls im Stuttgarter Vorort Degerloch aufwuchs, lodert hinter dieser schwarzkomischen Abrechnung vielleicht eine Privatrache. Dem Leser können die familiären Hintergründe allerdings egal sein: Er hat seinen Spaß an Häme, Schwesternhass und tragikomischen Anekdoten.

Den Rahmen bildet die Überführung der gefriergetrockneten Reste des vor Jahren mit Hilfe eines Selbstmords heimgegangenen Vaters nach Bulgarien. Alles scheint grauenhaft in diesem heiligen Gral der Hässlichkeit – Ikonen, ölige Pizzen und tätowierte Ringertypen mit Pferdeschwanz, die dem weiblichen Huren-Dresscode zurufen: Wir sind brutal. Selbst Salat schmeckt dort wegen der stark parfümierten Kellnerin, als habe er im Regal einer Drogerie übernachtet.

Fürchterliches Bulgarien

Allein das poststalinistische Monument zum 1300-jährigen Erwachen der Nation bringt die sprachmächtige Erzählung zum Schweigen: Auf vier Zeilen Gedankenstriche folgt die Vision der alemannischen Kehrwoche zur finalen Entsorgung des Denkmals. Auch Alkohol erlöst nicht: Der bulgarische Wein ist so scheußlich, dass ihn nicht einmal Patrioten trinken würden.

Trotz des bulgarischen Vaters ist die Erzählerin frei von heimatlichen Genen. Alemannisches Arbeitsethos beseelt ihre Abneigung gegenüber dem bulgarischen Schlendrian. Unter der Hand wird das Buch dank tausend seltsamer Geschichten über Hochstapler, Geschäftemacher, Rosenzüchter und Philatelisten zum Hymnus auf die balkanische Lebenskunst. Ins Bulgarische wird dieses eben mit dem Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Buch so schnell wohl kaum übersetzt werden.

Robert Braunmüller

Sibylle Lewitscharoff: „Apostoloff“ (Suhrkamp, 247 Seiten, 19.80 Euro)

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