"Boris Godunow" im Nationaltheater
George W. Bush, Tony Blair, Nicolas Sarkozy, Silvio Berlusconi, Wladimir Putin: Was haben sie gemeinsam? Dass ihre Gesichter zusammen mit denen anderer Machthaber auf Plakaten zu sehen waren, die ein unterdrücktes Volk in Calixto Bieitos Inszenierung der Oper "Boris Godunow" von Modest Mussorgsky auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper schwenken musste. Geblieben ist nur Putin, und das ist nicht der einzige Umstand, den die demokratische Weltgemeinschaft seit der Premiere dieser Produktion vor gut zehn Jahren zu beklagen hat.
Schon die Wiederaufnahme ein Jahr später stand unter wesentlich veränderte Vorzeichen, weil wenige Wochen zuvor der russische Diktator völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und im ostukrainischen Donbass russische und prorussische bewaffnete Milizen die ukrainische Bevölkerung angreifen ließ. Im Februar 2022 begannen Putins Truppen die Invasion der Ukraine, und dieses monströse Verbrechen änderte die Situation vollständig. In der aktuellen Aufführung werden keine Politikergesichter mehr gezeigt, sondern weiße Schilder - ohne jeglichen Inhalt. Man hätte den Staatsopern-Chor auch leere Papierblätter hochhalten lassen können, denn diese Meinungsäußerung reicht aus, um in Putins Russland ins Gefängnis geworfen zu werden.
Und selbst auf die konkrete sängerische Besetzung wirkt sich die schlimme Weltlage aus. Noch vor drei Wochen musste sich die Staatsoper dafür rechtfertigen, Ildar Abdrazakov für die Titelrolle verpflichtet zu haben. Dem russischen Bassisten wird seine Nähe zum Putin-Regime vorgeworfen, was ihn bereits Engagements in New York, Boston und Mailand kostete. Schon damals widersprach Abdrazakov, es seien vielmehr "familiäre Umstände" gewesen, die ihn zu einer Absage gezwungen hätten. Die Bayerische Staatsoper führt genau diesen Grund an, warum Abdrazakov nun doch nicht in den aktuellen Aufführungen auftritt.
Gleich, welche Seite hier die aktive war: Es ist gut, dass den Boris Godunow nicht jemand singt, der sich laut Medienberichten mit dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu bestens versteht.
Denn Mussorgsky hat den Zaren als einen Menschen angelegt, der mit einem Kindsmord an die Macht kam, aber an dieser Schuld zugrundegeht. Alexander Tsymbalyuk, der die Titelrolle schon bei der Premiere sang, legt den Boris mit seinem edlen Bass als reuigen Sünder an. Dennoch ist es schwer, mit ihm Mitleid zu haben, wenn man gleichzeitig erlebt, wie mark- und herzerschütternd der Dirigent Vasily Petrenko den grandiosen Chor leiden lässt und wie fast dokumentarisch realistisch das Bayerische Staatsorchester die Brutalität des Machtapparates schildert. Um wieviel mehr wünscht man allen denjenigen Personen unerträgliche Seelenqualen, die heute für das unvorstellbare Leiden unzähliger Menschen verantwortlich sind - oder dieses rechtfertigen.
Noch einmal am 6. Juli, 19 Uhr, Staatsoper, Telefon 21 85 19 20 undstaatstheater-tickets.bayern.de