Lachen der Verzweiflung: „Nach Mitternacht“ im Marstall

Audio von Carbonatix
Schon bevor das Publikum den Theaterraum im Marstall betritt, werden Kopfhörer ausgegeben. Aus denen klingen leise Schlager der 1930er Jahre wie Marlene Dietrichs „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Später machen sie Gedanken und Erinnerungen hörbar, schaffen eine zweite Zeit- und Bewusstseins-Ebene neben den Ereignissen auf der Bühne.
Die Regisseurin Cosmea Spelleken hat den Roman „Nach Mitternacht“ von Irmgard Keun fürs Residenztheater adaptiert. Spelleken begann ihre Arbeit als Regisseurin in einer Zeit, in der das Theater eigentlich zum Erliegen kam: während der Corona-Pandemie. 2020 hatte ihre erste Theaterarbeit „werther.live“ Premiere, eine digitale Live-Auseinandersetzung mit den Figuren aus Goethes „Werther“. Als eine der ersten gelang es ihr, den Live-Moment des Theaters in eine coronavirenfreie digitale Welt zu heben.
Die Zeit, in der Theater mit Distanz stattfinden musste, ist zum Glück vorbei. Ihre Liebe zu multimedialen Arbeiten aber hat Cosmea Spelleken sich bewahrt. Am Staatstheater Nürnberg begann sie 2022 mit ihrer „Odyssee“-Inszenierung damit, digitale und analoge Theatermittel zu einem neuen Gesamtkonzept zu verknüpfen.
In einer detailverliebten Kulisse
Und nun also ihre erste Arbeit in München. Irmgard Keun veröffentlichte ihren Roman „Nach Mitternacht“ 1937 in einem deutschsprachigen Exilverlag in den Niederlanden. Deutschland hatte sie im Jahr zuvor verlassen, ihre Bücher waren dort verboten worden. Sie hatte keine Perspektive mehr als Schriftstellerin in ihrer Heimat.
All diese Themen, die zunehmende Macht der Nationalsozialisten und die radikale Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit, bilden den Rahmen des Romans. Im Zentrum steht die junge Sanna Moder, für die sich die Situation in Deutschland im Jahr 1936 immer weiter zuspitzt, bis sie selbst vor der Entscheidung zwischen einem Leben in Deutschland mit allen damit verbundenen Repressionen oder der Emigration steht.
Die Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Kreinecker hat im offenen Raum des Marstalls eine detailverliebte 1930er-Jahre Kulisse entworfen: aus verschiebbaren Modulen lassen sich verschiedene Bars, aber auch ein gutbürgerliches Wohnzimmer zusammenstellen. Neben und über der Bühne hängen große Bildschirme, auf denen Szenen aus der Erinnerung in Filmsequenzen ablaufen. Auch wenn das Konzept, alles Gedachte und Erinnerte über Kopfhörer abzuspielen, dazu führt, dass das Publikum hektisch kollektiv die Hörer auf- oder absetzt, um nichts zu verpassen: Die Ebenen verschränken sich überzeugend zu einem Panorama äußeren und inneren Erlebens.
Eine famose Hauptdarstellerin
Im Zentrum steht Naffie Janha als Sanna. Wie dem gesamten Ensemble gelingt es ihr famos, diese junge Frau als Menschen zu zeigen, nicht als Stereotyp. Ihre Sanna ist eine, die hadert mit sich und dem, was um sie herum geschieht. Die wütend ist und traurig und doch einfach gerne unbeschwert leben, lieben und lachen würde. Die miterleben muss, wie ihr Bruder, der Schriftsteller, nur noch Heimatromane schreibt, um zu existieren, wie ihre politisch aktiven Freunde unter Druck geraten, verhaftet werden und sterben, wie ihre Freundin, die doch immer alles hinterfragt und provoziert, irgendwann klein bei gibt.
Es entsteht ein Panorama der Haltungen und Reaktionen, das bemerkenswert vielseitig ist. Da gibt es den gefährlichen SS-Mann, aber auch den Stürmer-Verkäufer, dem Thomas Reisinger eine fast schon liebevolle Naivität gibt, die ihn zum idealen Mitläufer macht: „Ich bin nur ein ganz einfacher und ungebildeter Mensch, meine Herrschaften“, sagt er, „ich habe mich gebildet durch den Stürmer, ohne den Stürmer hätt’ ich von den grauenhaften Gefahren für unser herrliches arisches Schicksal nichts gewusst.“
Nun preist er seine Wünschelrute an, mit der er unerkannte „Volksfeinde“ entlarven kann. Dass er sich gerade inmitten von ebensolchen in einer halblegalen Bar befindet, geht ihm nicht auf. Und doch wird er nicht zur Witzfigur. Spelleken leugnet weder seine verrückte Menschlichkeit noch seine Gefährlichkeit.
Immer wieder ist das Treiben auf der Bühne so abstrus, das Verhalten der Menschen in diesem unlogischen Unrechtssystem so haarsträubend, dass man lachen muss. Wenn sich die Nazi-Gattin „bei Juden“ heimlich einen Pelz kauft mit Geld, das sie ihrem Mann gestohlen hat. Wie sie dann von einer Mitwisserin erpresst wird, damit deren Tochter dem Führer bei der Parade Blumen überreichen darf. Es ist ein bitteres Lachen und eines der Verzweiflung.
Es gelingt diesem Abend, die Gleichzeitigkeit von Alltag und Bedrohung, von Momenten der Leichtigkeit und der Schwere herauszuarbeiten. Leider ist es das Grauen, das irgendwann jeden unbeschwerten Augenblick niederringt.
Wieder am 8., 12. und 20. 10., 10. und 16. 11., im Marstall, Karten: residenztheater.de
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