Beim Hobeln fallen Späne

Im ARD-Melodram „Hannas Entscheidung” spielt Edgar Selge einen Schreiner, der gebrochen aus dem Krieg kommt. Mit der AZ sprach er über harte Väter, Emanzipation und frischen Wind im Theater
Pierre Jarawan |
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Er spielt Typen, die’s nicht leicht haben mit sich und ihrem Drumherum. Tragikomiker, Melancholiker, und ja, Neurotiker mit Hang zur Hypochondrie liegen Edgar Selge ganz besonders. Als einarmiger Kommissar im „Polizeiruf 100” wurde der Schauspieler einem breiten Fernsehpublikum bekannt. Jetzt spielt er im ARD-Streifen „Hannas Entscheidung” einen traumatisierten Kriegsheimkehrer.

AZ: Die Figur des Karl Forster ist von seelischem Schmerz und Selbstekel zerfressen. Wie bereitet man sich vor?
EDGAR SELGE: Natürlich bespricht man sich mit dem Regisseur. Dazu habe ich spezielle Fachliteratur zum Thema „Kriegsheimkehrer” gelesen und mit einem Psychologen gesprochen.

Hat die Erinnerung an Ihre eigene Kindheit nicht auch eine Rolle gespielt?
Doch, die floss natürlich in die Vorbereitung ein, mein Vater war ja selbst Russlandheimkehrer. So fängt man einfach damit an, die eigenen Erfahrungen in Richtung der Fiktion zu verlängern.

Wie muss man sich das genau vorstellen?
Vielen, auch meinem Vater und seinen Freunden, ist es damals sehr schwer gefallen, wieder die Zügel in die Hände zu bekommen und in den Alltag zurück zu finden. Das war für diese Männer eine unglaubliche Anstrengung.

Im Film sagt der Bürgermeister einmal: „Es gibt viel wieder aufzubauen.” Lässt sich das nicht nur auf das Land, sondern vor allem auch auf die Familien übertragen?
Das ist richtig und gilt nicht nur für Land und Familien, sondern auch für die Wertvorstellungen. Als Karl heimkommt, hat sich das Rollenververhalten in der Familie umgekehrt. Seine Frau weigert sich, in die alte Rolle an der Seite des Schreinermeisters zurückzufallen, und er kann damit nicht umgehen. Mit diesem Problem mussten sich viele Männer auseinander setzen.

Bei Hanna ist es nicht nur die Weigerung, sondern auch die Unfähigkeit, in die alte Rolle zurückzukehren. Woran liegt das?
Die Männer kamen als völlig gebrochene Menschen nach Hause. Dabei waren ihre Frauen dazu erzogen, zu diesen Männern aufzuschauen. Jetzt hatten sie plötzlich Partner daheim, die Hilfe brauchten. Das formiert natürlich die Rollenverteilung in den Familien ganz neu. Viele Ehen sind dadurch zerbrochen.

Sie spielen nicht zum ersten Mal einen Traumatisierten. Auch der Kommissar Tauber aus dem „Polizeiruf” war in gewisser Weise ein gebrochener Mann. Und beide, Tauber und Karl, können nur noch einen Arm benutzen.
Stimmt, da gibt es Parallelen, aber ich glaube, das ist Zufall. Ich wollte die Rolle des Karl hauptsächlich deshalb spielen, weil es über die Männer von damals noch so viel zu erzählen gibt.

Aber die Thematik wurde schon in einigen Filmen verarbeitet. Warum ist „Hannas Entscheidung” trotzdem nicht einfach ein weiterer Heimkehrerfilm?
Finden Sie? Also ich meine, es gibt nicht so viele Heimkehrerfilme, die zeigen, wie schwierig die Findung der neuen Rollen von Mann und Frau gewesen ist. Und dass im Grunde die Emanzipation genau in dieser Zeit angefangen hat.

Wenn Sie die Frauen von damals als Vorreiterinnen der Emanzipation sehen, sind die Kinder dann nicht auch die Wegbereiter für das Deutschland der 60er Jahre?
Das glaube ich schon. Das Bedürfnis der Kinder, zum Vater aufzuschauen und ihn als Vorbild zu sehen, wurde damals oft enttäuscht. Und wenn man so früh lernen muss, seinen Vater zu kritisch zu sehen, dann hat das sicher Folgen für die Zukunft. Ich weiß noch, dass es unter meinen Freunden damals nicht einen einzigen gab, der nicht fürchterlich von seinem Vater verprügelt worden wäre.

Kriegsheimkehrer gibt es auch heute. Nur kommen die nicht aus Russland, sondern aus Afghanistan. Wie, denken Sie, unterscheidet sich das Heimkehren heute von damals?
Ich glaube, der Hauptunterschied ist der, dass es im Vergleich zu damals nur Wenige sind. Und diese Männer kommen in ein Land zurück, in eine Gesellschaft, die keine Ahnung vom Krieg hat. Dieser Krieg wird hier ja kaum als solcher wahrgenommen. Dabei leben die Soldaten dort täglich in Lebensgefahr. Die Traumatisierung der Betroffenen ist sicher genauso folgenreich wie damals.

Sie haben fast 40 Jahre Theatererfahrung, standen an den Münchner Kammerspielen oft auf der Bühne. Wie beurteilen Sie denn den Wechsel von Dieter Dorn zu Martin Kušej am Residenztheater?
Ich denke, der Wechsel war überfällig. Ein Theater muss ja am Nerv der Zeit bleiben, und es ist für eine ganze Gruppe schwer, sich über mehr als zehn Jahre mit zu entwickeln – aber genau das ist eben notwendig.

Inzwischen drehen Sie hauptsächlich. Können Sie sich trotzdem vorstellen, irgendwann wieder in München zu spielen?
Ja, ich habe das Münchner Publikum immer sehr geschätzt, weil es sehr offen ist und nicht so schnell urteilt.

Würden Sie sich auch einem Ensemble anschließen?
Ja, aber dann nur in einer Form, die es mir erlaubt, die Dreharbeiten, die ich mache, weiterhin zu tun.

Freitag, 9. März 2012, 20.15 Uhr, ARD

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