Aus dem Kokon in den Psychothriller
Philharmonie: Der Tenor Ian Bostridge fasziniert mit Händel
Eigentlich genügt es, wenn er nur so auf der Bühne steht, sich um die eigene Achse windet, dass man um seine langen dünnen Beine fürchten muss. Und diesen unglaublichen Blick schweifen lässt. Damit erzählt Ian Bostridge schon Geschichten.
Überhaupt interessiert ihn auch bei Händel vor allem der Plot, der schnell in die Tiefe führt, nicht das virtuose Aneinanderreihen von Tonkaskaden und Koloraturketten (die trotzdem punktgenau sitzen). Und also spürt man bereits die balsamisch kühlenden Winde auf der Haut, die Jupiter in „Where’er you walk“ („Semele“) ankündigt. Und in „Comfort ye“ („Messias“) hüllt Bostridge sein Publikum in einen zarten Kokon. Dann ziehen sich durch das helle, metallische Timbre seiner Stimme warme Farbfäden, die das Northern Sinfonia Orchestra behutsam aufgreift – in einem kleineren Saal wäre von all diesen Finessen viel mehr zu hören gewesen. Aber gut, Bostridges beeindruckende Kunst verfehlt selbst in den Weiten der Philharmonie nicht ihr Ziel.
Wobei der Höhepunkt des Abends ausgerechnet eine transponierte Kastraten-Arie war: Takt um Takt mutiert „Scherza infida“ („Ariodante“) von einer kummersatten Wehklage zum bedrohlichen Psychothriller. Doch dafür lässt man auch den besten Counter links liegen.
Christa Sigg
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