Auf der Suche nach dem verlorenen Wort
Schriftstellerin Oya Baydar bürdet ihrem Protagonisten eine Schreibhemmung auf
Schreibhemmungen sind weder ungewöhnlich noch anrüchig oder gar pathologisch. Auch wenn die Kreativitätstheorie das nicht so recht wahrhaben will. Dabei kann die Abwesenheit literarischen Schaffensdranges, ja der Ekel vor der Formulierung große Werke hervorbringen. Proust und Beckett, Kafka und Musil und einige mehr laborierten existenziell an Blättern, die weiß zu bleiben drohten – und schöpften erstaunliche Themen aus ihrem Horror vacui. Hugo von Hofmannsthal etwa, der im so genannten Chandos-Brief sein krisenhaftes Ringen mit dem Satz beschreibt, die Worte seien ihm „im Munde zerfallen wie modrige Pilze“.
So gesehen befindet sich Ömer Eren in bester Gesellschaft. Türkischer Bestsellerautor ist der Mann, der mit jenem Beruf hadert, den er einst als Berufung empfand: „Als er darüber nachzudenken beginnt, wie er Schritt für Schritt seine Stimme verlor, wie die sprudelnde Stimme versiegte, die das Wort nährt, fühlt er sich wie in einer Falle“, heißt es in Oya Baydars Roman „Verlorene Worte“.
Denn für Ömer Eren steckt hinter der Drohung des verbalen Versiegens jene des Versagens insgesamt: Eine ganzheitliche Kastrationsangst treibt den Mittfünfziger um. Hinzu kommen weitere lebensweltliche Baustellen: Von seiner Frau Elif, einer gefeierten Biochemikern, hat sich Ömer entfremdet. Und Deniz, der mit hohen Erwartungen bedachte Sohn des Paares, hat sich nach traumatischen Erfahrungen als Kriegsfotograf im Irak nach Norwegen abgesetzt, um dort jene Spießerexistenz zu führen, vor der ihn seine progressiven Eltern immer gewarnt haben.
Ein anrührendes Buch über den Kurden-Konflikt
Angesichts dieser beruflichen und familiären Malaisen kommt es Ömer durchaus zupass, als er am Busbahnhof in Ankara zufällig mitbekommt, wie eine schwangere Kurdin von einer verirrten Gewehrkugel getroffen wird. Die Frau überlebt, verliert aber ihr Kind. Ömer, der von ihrem Freund um Hilfe gebeten wird, begleitet das Paar in dessen anatolische Heimat, den „östlichsten Osten“. Die Reise gerät ihm gleichsam zu einem Trip in sein innerstes Ich: Die strukturelle Gewalt der Staatsmacht gegen die Kurden, deren Kultur unterdrückt wird, führt Ömer drastisch vor Augen, wie schäbig sein Selbstmitleid ist. Gibt es doch in der nach Europa drängenden Türkei Hemmnisse in der Sprachproduktion, die so gar nichts mit privilegierten Schriftstellern zu tun haben, sondern mit dem Drangsalieren der eigenen Bevölkerung.
Oya Baydar, Jahrgang 1940, ist ein ebenso mutiges wie anrührendes Buch gelungen, das den thematisch heiklen Grat zwischen Politik und Poetik souverän meistert. So glückt der im besten Sinne engagierten Autorin das rare Kunststück, die Fährnisse des kurdischen Kollektivs schlüssig mit den Nöten zweier Individuen zu verknüpfen. Dass Ömer in Ostanatolien mit seiner Fähigkeit zum Mitleid zugleich die lange schmerzlich vermissten Worte wieder findet, mit denen er nunmehr Zeugnis vom geschauten Elend ablegen kann, deutet eine Utopie auch und gerade im Politischen an.
Was an Baydars Plädoyer für eine friedliche Lösung des Kurdenproblems fasziniert, ist der Umstand, dass sie plakative Stellungnahmen meidet und Tagespolitik allenfalls im Subtext streift. Vielmehr schöpft sie suggestive Kraft aus atmosphärisch dichten Beschreibungen dessen, was sie „Tragödie der Minderheiten“ nennt.
Hendrik Werner
Oya Baydar: „Verlorene Worte“ (Claassen, 455 Seiten, 22.90 Euro)
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