Auf der abschüssigen Bahn gen Süden
Auf der Berlinale überzeugt Tilda Swinton als verzweifelte Frau in Erick Zoncas Film »Julia«. Der Wettbewerb aber verliert an Fahrt - doch da kommt Doris Dörrie.
Zerrüttete Familien, verlorene Seelen, eine Umwelt, die den Menschen kaum Platz für Träume lässt – und dann scheint, überraschend und fast beiläufig, doch wieder Hoffnung auf. Das sind die Themen der ersten Wettbewerbsbeiträge der 58. Berlinale, die es nach den von Paul Thomas Anderson und seinem Protagonisten Daniel Day-Lewis als Öl-Tycoon entfesselten Urgewalten in „ThereWill Be Blood“ erst einmal nicht leicht hatten, das Publikum zu fesseln.
Aber dann bewies sich Tilda Swinton als Titelheldin Julia in Erick Zoncas Genremix als Furor-Pendant zu Day-Lewis. In seinem ersten in den USA realisierten Film spielt der Franzose Erick Zonca, („Der kleine Dieb“) gekonnt mit Genres – vom Psychoporträt zum Film Noir und Roadmovie. Tilda Swinton („Orlando“) raubt einem fast den Atem, so facettenreich lotet sie alle Abgründe dieser Frauenfigur aus.
Julia ist um die 40, Alkoholikerin, eine notorische Lügnerin, manipulativ und kaltherzig. Ihre selbstverleugnete Verzweiflung kann sie bald nicht mehr hinter Schminke, sexy Outfits, exaltiertem Gehabe verstecken. Immer dramatischer werden die Blackouts nach Exzessen in fremden Betten und Kneipen von Los Angeles. Als sie ihren Job verliert und alle Freunde bis auf Mitch, lässt sie sich von einer geistesgestörten Mexikanerin überreden, deren zehnjährigen Sohn zu entführen.
Tom (Aidan Gould) lebt bei seinem reichen amerikanischen Großvater, und der wird Millionen Dollar Lösegeld zahlen. Die Grausamkeit, mit der Julia zu Werke geht, zeigt, dass sie nicht mehr bei Sinnen ist. Alles geht schief, panisch flieht sie mit Tom nach Mexiko – und dort, in der Grenzstadt Tijuana, entführen den Jungen Kleinganoven, die noch weniger zu verlieren haben als Julia. Die, zunehmend ernüchtert, hat so etwas wie eine Beziehung zu Tom entwickelt. Regisseur Zonca, sichtlich inspiriert von Cassavetes’ „Gloria“ mit Gena Rowlands, und seine tragische Antiheldin Swinton halten die Spannung 138 Minuten lang bis zum Schluss.
An Andersons Wucht kommt keiner vorbei
Beachtung in der Konkurrenz haben auch zwei stille Filme aus China und Mexiko verdient. Wang Xiao Shuai (Berlinale-Silber für „Beijing Bycicle“, 2000) beleuchtet in seinem Psychodrama „Zuo You“ nachfühlbar die Fatalität der chinesischen Familienpolitik. Ein geschiedenes Paar, beide wieder gut liiert, muss, um das Leben seiner leukämiekranken kleinen Tochter zu retten, ein Kind zeugen, das eine Knochenmarktransplation möglich macht. Und die neuen Partner müssen auf Elternschaft verzichten. Alles im Namen der Liebe, so der übersetzte Titel.
Dogmafilm „Lake Tahoe“
Fernando Eimbcke, 2003 Gast des Berlinale Talent Campus, spürt in seinem lakonischkomischen Dogmafilm „Lake Tahoe“ der Trauer eines Teenagers um den toten Vater nach. Juan, der sich um die depressive Mutter und den kleinen Bruder kümmern sollte, findet in kuriosen Zufallsbekanntschaften mit ebenso einsamen Menschen zurück ins Leben. Auch ein Hund namens Sica hätte eine Bären-Trophäe verdient, als Nebendarsteller.
Und Doris Dörrie beweist mit ihrer wunderbaren Tragikomödie „Kirschblüten – Hanami“ wieder einmal, dass der deutsche Film Weltklasse haben kann.
Angie Dullinger
- Themen:
- Doris Dörrie