Am Abgrund der Existenz

Das Stadtmuseum zeigt die unglaubliche Retrospektive des amerikanischen Fotokünstlers Roger Ballen – mit Arbeiten von 1969 bis 2009
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Das Stadtmuseum zeigt die unglaubliche Retrospektive des amerikanischen Fotokünstlers Roger Ballen – mit Arbeiten von 1969 bis 2009

Die beiden Schädel bohren sich ins Hirn. Unwiderruflich. Ob man sich nun entsetzt abwendet oder mit gar nicht leisem Schauder die unfassbaren Segelohren studiert. Den debilen Blick, die schon länger nicht mehr gewaschenen Hemden, den speicheltriefenden Mund. „Dresie and Casie“, diese unheimlichen Zwillinge, sind vermutlich Roger Ballens bekannteste Arbeit. Dem amerikanischen Fotokünstler ist jetzt im Stadtmuseum eine in jeder Hinsicht beeindruckende Retrospektive gewidmet. Mit bislang nie öffentlich gezeigten frühen Werken.

Dabei zeigen diese ersten, schon ziemlich genau kalkulierten Szenen aus den Jahren 1969 bis 1973 eine Menge von dem, was den späteren Ballen ausmacht: der Sinn für die Eloquenz der Formen, die leitmotivische Wiederholung von Strukturen, das subtile Spiel der Schatten, die Wand im Hintergrund, der ihm oft wichtiger ist, als das Davor. Der Autodidakt aus New York komponiert mit 19 bereits wie ein alter Hase, findet den richtigen Moment. Und seinen Blick konnte er schon als Kind an den ganz Großen schulen. An Henri Cartier-Bresson zum Beispiel, an Bruce Davidson oder André Kertéz. Denn Ballens Mutter Adrienne arbeitet in der New Yorker Dependance der legendären Fotoagentur Magnum.

Entlegene Gegenden

Das hindert ihn nicht daran, zunächst ganz andere Wege einzuschlagen und Psychologie zu studieren. Doch nach dem Tod der Mutter holt ihn die Fotomanie wieder ein, und er zieht 1973 für ein paar Jahre durch die Welt. Ein Bub („Letting go“) grinst ihm in Indonesien feixend in die Kamera, daneben liegt sein Spielkamerad wie ein Gekreuzigter, mit einer Hand voll Erde bedeckt („Cover-up“). In Israel macht ein Stiefelträger in der Tristesse einer Vorstadtstraße einen Luftsprung („Leap“). Veröffentlicht im ersten Band „Boyhood“ künden diese Aufnahmen vom Einfluss der Street Photography.

Nach der Weltreise entschließt Ballen sich, Bergbau zu studieren. Und diese Neuorientierung führt ihn nach Südafrika, wo er als Geologe den Abbau von Bodenschätzen begleitet und in die entlegensten Gegenden gerät. Dorthin, wo das Leben wie in einer düsteren Sackgasse um sich selber taumelt. Er fotografiert die Relikte der weißen Kolonialherren, abgeblätterte Säulenportale, trostlose Kirchen. Und er stößt auf die weiße Unterschicht, auf Nachfahren der Buren, die am Rande der Gesellschaft, am Rande des Existenzminimums vegetieren. Oft Opfer generationenübergreifenden Inzests. Arme Hunde, denen nur der Hund geblieben ist, mit verdrehten Pupillen in zahnlosen Gesichtskraterlandschaften. Daneben Gewehre, Schlagstöcke, hinter denen Gewalt lauert.

Erschreckend ist das, und manchmal saukomisch, wenn drei Behinderte „Partytime“ feiern. Schwarzweiß-Dokumente psychischer Abgründe, ohne sozialkritischen Zeigefinger. „Ich bin meine Bilder“, sagt der 60-jährige Künstler. Was andere nicht einmal aus der Ferne ansehen, zieht ihn an. Noch heute fotografiert Ballen täglich bei den Outlaws in Johannesburg. Angst kennt er nicht, man entwickelt, sagt er, einen siebten Sinn und weiß, wann man besser geht. Vielleicht verschwinden die Menschen auch deshalb mehr und mehr aus diesen unglaublichen Bildern.

Christa Sigg

Bis 27. Februar, Katalog 35 Euro

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