Alte Wunden, neues Salz

Philip Roth wählt für seinen neuen Roman die Perspektive eines 18-Jährigen, um noch einmal die Schlachten um Sex und Bürgerlichkeit zu schlagen
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Philip Roth wählt für seinen neuen Roman die Perspektive eines 18-Jährigen, um noch einmal die Schlachten um Sex und Bürgerlichkeit zu schlagen

Es reicht. Irgendwann hat man genug gehört von den Leiden alter Männer, kennt ihr anhaltendes Begehren und ihre nachlassende Potenz, ihre Affären mit jüngeren Frauen, ohne dass sie das Drama des Körperverfalls stoppen können. Es war doch zuvorderst dieses Thema, das Philip Roth in seinen letzten Romanen oft großartig umkreist hat, und zunächst könnte man glauben, dass er, im Akkord mit einigen Kritikern, den Tiefflug in die Altersschwermut satt hat.

In seinem neuen Roman „Empörung“ wählt er die Perspektive eines 18-Jährigen, erzählt auf den ersten Blick nicht von letzten, sondern ersten Erfahrungen, von Abnabelung und sexueller Initiation, von unsicheren Schritten in eine Welt, in der moralische Tretminen auf Kontakt warten, gerade in den bravbürgerlichen 50ern, in denen Roth den Roman ansiedelt.

Überraschend ein Blowjob

Aber bereits auf der ersten Seite ahnt man, dass im coming-of-age auch ein coming-to-death lauert. Im ersten Satz führt Roth den Korea-Krieg mit dem Schicksal von Marcus „Markie“ Messner eng – der Krieg kommt ins Rollen, der Junge geht aufs College. Markies Vater, ein Metzger, treibt plötzlich die irrationale Angst um, dass der Sohn sterben könnte. Vor Beginn der Universitätskarriere bringt er dem Jungen intensiv das Schlachten, Rupfen, Verarbeiten bei, ein Handwerk, das Roth auch in der Übersetzung von Werner Schmitz in geschliffenen Sätzen dem Leser nahe bringt, um ihn weiter in seinen blutroten Bildungsroman zu locken.

Genervt von der Kontrollwut des Vaters flieht Markie von der Ostküstenheimat Newark auf ein kleines College in Winesburg, Ohio, ein fiktiver Ort, den einst Sherwood Anderson für eine berühmte Kurzgeschichtensammlung erfand. Eine merkwürdige Figur ist dieser Markie, allein interessiert an der Optimierung seiner schulischen Leistungen, weniger an Frauen oder studentischen Verbindungen, denen er sich entzieht. Eine ruhige innere Spannung baut sich hier auf, die Roth nach einem Viertel des Romans gleich doppelt explodieren lässt: Sein Held kommt überraschend in den Genuss eines Blowjobs – und macht im selben Atemzug deutlich, dass dies auch sein letzter war. Markie ist tot und glaubt, dass er aus einem metaphysischen Reich der Erinnerung berichtet.

Es wird noch weitere Überraschungen in diesem kurzen, dichten Roman geben. Seine Spannung bezieht er aus der fatalen Vorausschau, die dem Treiben des Helden eine permanente tragische Dimension verleiht. So reiht Markie sich doch nahtlos in die Reihe der Rothschen Außenseiter ein, nur dass seine Isolation nicht altersbedingt, sondern frei gewählt ist und als Ausdruck seines Widerwillens erscheint, sich gesellschaftlichen Konventionen unterzuordnen.

Sein Krieg findet an allen Fronten statt

Seine Haltung macht ihn unverhofft zum Rebell – in einem brillant geschriebenen Dialog mit dem Dean der Schule plädiert Markie gegen die Verpflichtung, am Mittagsgottesdienst teilzunehmen, und pocht auf die Wahrung seiner Privatsphäre. Die restriktiven Strukturen des Colleges führen zwangsweise zu weiteren Skandalen: Gegen Ende lässt Roth genüsslich die unter Verschluss gehaltenen erotischen Energien der männlichen Studenten sich Bahn brechen.

Der Krieg findet bei Roth an allen Fronten statt, geschlachtet wird nicht nur in der Metzgerei, und nebenbei bleiben auch die Frauen auf der Strecke, darunter Markies Mutter, die an der Paranoia ihres Ehemanns verzweifelt. Mit messerscharfer Logik legt Roth das moralische Dilemma einer Gesellschaft zwischen christlich-bürgerlicher Repression und Ideologie der Selbstbestimmung offen. In die Wunden streut er das Salz seiner Ironie, was auf äußerst unterhaltsame Weise schmerzt.

Michael Stadler

Philip Roth: „Empörung", Hanser, 208 Seiten, 17.90 Euro

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