Als 125 Gramm Brot am Tag zum Überleben reichen mussten

Schriftstellerin Lena Gorelik über Anne Frank, Leningrad und „Lenas Tagebuch“
Günter Keil |
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Schriftstellerin Lena Gorelik über Anne Frank, Leningrad und „Lenas Tagebuch“.

MÜNCHEN - Die Blockade Leningrads rückt wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Vor knapp 70 Jahren endete eines der größten deutschen Kriegsverbrechen – jetzt erscheint ein erschütterndes Dokument dieser Zeit: In „Lenas Tagebuch“ protokolliert die 16-jährige Lena Muchina die Blockade. Lena Gorelik hat das Buch aus dem Russischen übersetzt. Die 31-jährige Autorin kam 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland und hat inzwischen sechs Bücher veröffentlicht. Goreliks Großmutter überlebte die Blockade.

Frau Gorelik, es wird behauptet, Lenas Tagebuch sei ein ähnlich wichtiges Zeitdokument wie Anne Franks Tagebuch. Stimmen Sie zu?

LENA GORELIK: Was die Art der Werke betrifft, schon. Beide wurden von literarisch ambitionierten Mädchen geschrieben, während die Menschen um sie herum mit dem Überleben kämpften. Inhaltlich stimmt der Vergleich nicht, denn die Blockade kann man natürlich nicht mit dem Holocaust gleichsetzen.

Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal von der Blockade erfuhren?

Nicht genau, aber das Thema war irgendwie immer da. Auf Festen, Familienfeiern, aber auch bei Kleinigkeiten im Alltag kam die Sprache darauf. Die Erzählungen und Schwarz-Weiß-Fotografien haben mich während meiner ganzen Kindheit begleitet.

Ging Ihnen das auch mal auf die Nerven?

Nein. Die Blockade war Legende, erfüllte uns mit Stolz und trieb uns zugleich Schauder über den Rücken. Wenn mir jedoch meine Großmutter mal wieder ein schlechtes Gewissen machte, war es nicht einfach.

Wann passierte das?

Wenn ich beim Essen mäkelig war und mich weigerte, das Brot aufzuessen, sagte sie: „Weißt du, wie viel Brot wir während der Blockade bekamen?“ Das wusste ich: die Tagesration lag bei 125 Gramm. Hunger, Angst und Tod waren ein Synonym für die Blockade.

Wurde bei Ihnen zu Hause offen über diese Zeit gesprochen?

Ja, da man als Petersburger sehr stolz darauf war und ist, die Deutschen damals nicht durchgelassen und durchgehalten zu haben. „Heldenstadt“ Leningrad heißt es auch heute noch auf dem Obelisk im Zentrum von Sankt Petersburg. Wir waren Leningrader: Enkelkinder von Helden.

Spürten Sie diesen Stolz auch später noch?

Er ist irgendwo auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen.

Doch dann tauchte das Tagebuch von Lena Muchina auf.

Ja, und wie! Im Sommer vergangenen Jahres rief mich die Verlegerin Tanja Graf an und meinte, sie hätte da ein Manuskript, ob ich es lesen würde? Als ich erfuhr, um was es ging, war ich sofort neugierig. Ich begann mit dem Tagebuch und konnte es nicht aus der Hand legen. Alles war plötzlich wieder da: die Legende, der Hunger, die Helden, der Stolz, das schlechte Gewissen. Aber nun hatte das schlechte Gewissen einen anderen Grund: es ging nicht ums Brot, sondern darum, dass die Blockade in meiner Erinnerung verblasst war.

Was hat Sie beim Lesen besonders berührt?

Die Ehrlichkeit. Dieses Tagebuch versucht nicht, objektiv Geschichte zu beschreiben. Es ist das Tagebuch eines jungen Mädchens, das von Liebe träumt, von einer glänzenden Zukunft. Ein paar Seiten später geht es nur noch ums blanke Überleben. Lena verliert alles, alle Menschen, die ihr etwas bedeuten. Und weil sie eben fast noch ein Kind ist, berührt es einen so stark. Mir ging es sehr nahe.

Was kann Lenas Tagebuch heute bewirken?

Ich glaube, dass es zunächst einmal den Bildungshorizont erweitern kann. Die Blockade ist ja in Deutschland nicht so bekannt. Das Besondere daran ist aber, dass es eben kein typisches Geschichtsbuch ist. Und genau deswegen berührt es mehr. Selbst wenn man sich nicht für Leningrad oder den Zweiten Weltkrieg interessiert, gibt es diese beeindruckende Geschichte von einem Mädchen, das einen Krieg erlebt.

Lena Muchina: „Lenas Tagebuch“ (Graf Verlag, 288 Seiten, 18 Euro). Lesung heute im Literaturhaus um 20 Uhr

 

 

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