Interview

All die blinden Flecken: Lola Dockhorn über "Appropriate“ im Volkstheater

Das neue Ensemblemitglied spielt in Christian Stückls Inszenierung des Theaterstücks von Branden Jacob-Jenkins.
Michael Stadler |
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Lasse Stadelmann und Marlene Markt in Christian Stückls Inszenierung von Branden Jacob-Jenkins’ Stück „Appropriate“.
Lasse Stadelmann und Marlene Markt in Christian Stückls Inszenierung von Branden Jacob-Jenkins’ Stück „Appropriate“. © Arno Declair

Gleich drei Inszenierungen behandeln in München derzeit die Frage, was bleibt, wenn ein Vater stirbt. Wiebke Puls adaptiert Anne Paulys Roman "Bevor ich es vergesse“ in den Kammerspielen, in der Schauburg geht es um "Die Asche meines Vaters“ und jetzt inszeniert Christian Stückl "Appropriate (Was sich gehört)“ des US-amerikanischen Dramatikers Branden Jacob-Jenkins im Volkstheater.

Im Stück geht es um drei Geschwister, Toni, Bo und Frank, die sich im Jahre 2011 im Anwesen ihres kürzlich verstorbenen Vaters in Arkansas einnisten, um Erbfragen zu regeln. Dabei kommen alte familiäre Konflikte hoch - und sie entdecken ein Fotoalbum, das den Vater in einem anderen Licht erscheinen lässt. Premiere ist am Freitag um 19.30 Uhr auf der Bühne 1. Ensemble-Neuzugang Lola Dockhorn spielt Toni.

AZ: Frau Dockhorn, haben Sie Geschwister?
LOLA DOCKHORN: Ja, ich habe sechs Halbgeschwister. Fünf Brüder und eine Schwester. Einen älteren Bruder Ende 30 und danach komme ich als zweitältestes Kind.

Dann kennen Sie wohl die Geschwisterkonflikte, die in "Appropriate“ aufbrechen.
Oh ja. Bei uns gibt es zwar keinen Erbstreit, aber das Aufeinanderprallen von sehr unterschiedlichen Charakteren, diese subtilen Dynamiken zwischen Geschwistern und unausgesprochenen Gefühle in familiären Konstellationen kenne ich durchaus. Bei uns kommt noch hinzu, dass wir eine große Patchwork-Familie sind, was es nicht weniger komplex macht.

Pascal Fligg und Lola Dockhorn.
Pascal Fligg und Lola Dockhorn. © Arno Declair

Dennoch verstehen sie sich gut.
Total. Es ist ein großer, wilder Haufen, wir lieben uns sehr und kommen gut miteinander zurecht. Aber es gibt wohl keine Familie, bei der nicht hin und wieder was unter der Oberfläche brodelt.

Welche Rolle spielen Sie dabei?
Ich bin die älteste Schwester. Meine kleinere Schwester ist jetzt sieben Jahre alt. Dadurch war ich lange Zeit das einzige Mädchen in der Familie und hatte, ähnlich wie die Figur Toni im Stück, eine Art Sonderposition. Ich musste lernen, mich gegenüber meinen Brüdern durchzusetzen, musste eine gewisse Kraft entwickeln. Ich bin dann relativ früh von zu Hause ausgezogen, während meine Geschwister hier in München geblieben sind.

Toni pflegte ihren Vater, ist nach seinem Tod für die Haushaltsauflösung zuständig, während Bruder Bo das Finanzielle übernommen hat. Die klassische Schwester-Bruder Aufteilung, oder?
Ich denke, als Tochter, als Schwester steckt man weiterhin in dieser Care-Funktion. Man ist eher für die emotionale Arbeit zuständig. Die Familie zusammenhalten, Streitigkeiten schlichten, harmonisieren - das sind Aufgaben, die gesellschaftlich weiterhin leider eher weiblich konnotiert sind.

Im Hause von Tonis Vater wird ein Album mit Fotos gefunden, auf denen Leichen zu sehen sind, vermutlich Opfer von Lynchmorden. Es ist dann vor allem Toni, die nicht wahrhaben will, dass ihr Vater wohl ein Rassist war.
Ich würde sagen, sie muss das! Sie streitet die Schuld ihres Vaters nicht gänzlich ab, aber sie relativiert die Schwere der Schuld, setzt sie in den Kontext seiner Generation. Tonis Ehemann hat sich von ihr getrennt, ihr Sohn entzieht sich ihr, ihre Mutter ist schon lange tot. Ihr Vater war der Einzige, so sagt sie auch im letzten Akt, der sie gehalten hat. Deshalb idealisiert sie ihn. Wenn er jetzt in Verruf gebracht wird, wird nicht nur er beschädigt, sondern auch sie selbst. Sie muss ihn schützen, die Wertschätzung für ihn aufrechterhalten, denn sonst müsste sie einen Teil von sich loslassen.

Carolin Hartmann, Pascal Fligg und Lola Dockhorn.
Carolin Hartmann, Pascal Fligg und Lola Dockhorn. © Arno Declair

Toni ist 49 Jahre alt und damit zwanzig Jahre älter als Sie. Spielen Sie "älter“?
Die Behauptung, dass Toni 49 Jahre alt ist, wurde bei den Proben nie in Frage stellt. Ich spiele nicht älter, bin auch nicht auf älter geschminkt. Vielleicht sorgt das kurz für Irritationen, wenn mein Kollege Lasse Stadelmann Tonis Sohn spielt, während er selbst nur fünf Jahre jünger als ich ist. Oder dass ich die älteste Schwester sein soll und dabei jünger als Pascal Fligg bin, der Bo spielt. Aber die Narrative der Figuren sind so selbsterklärend und stark, dass man schnell einen Überblick darüber hat, wer zu wem gehört.

Der Neubau des Münchner Volkstheaters in der Tumblingerstraße.
Der Neubau des Münchner Volkstheaters in der Tumblingerstraße. © imago images/Karo

Toni wird von ihrem Umfeld oft negativ beschrieben: Sie sei "gruselig“, ein "Kontrollfreak“, "eine miserable Mutter und ein toxischer Mensch“. Was gibt es Positives über sie zu sagen?
Einiges! Sie ist sicherlich nicht als verbitterter Mensch auf die Welt gekommen, aber musste nun mal viel einstecken. Sie hat nach dem frühen Tod der Mutter ihre beiden Brüder mit aufgezogen, musste für ihren trauernden Vater da sein. Diesen und anderen Ballast trägt sie mit sich, aber dadurch hat sie auch eine unglaubliche Kraft, einen starken Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit. Sie hat einen wunderbar trockenen Witz, eine hohe emotionale Intelligenz. Den Wunsch nach Kontrolle und das Scheitern an den eigenen Ansprüchen an sich empfinde ich beim Lesen dieser Figur als zutiefst menschlich.

Marlene Markt und Lasse Stadelmann.
Marlene Markt und Lasse Stadelmann. © Arno Declair

Sarah Paulson, bekannt aus der Serie "American Horror Story“, hat Toni am Broadway gespielt und wurde dafür im letzten Jahr mit einem Tony Award ausgezeichnet. Es ist eine tolle Rolle, die Sie da gleich zu Ihrem Einstand im Ensemble des Volkstheaters spielen.
Das ist natürlich ein schönes Geschenk! Als ich erfuhr, dass ich diese Figur spielen soll, hatte ich zunächst "Imposter“-Gefühle. Sobald aber die Leseproben losgingen, verflog diese Hochstapler-Angst. Ich hatte das Gefühl, wir alle finden unsere Töne, unsere Räume in diesem Stoff. Ich vertraue auch der Einschätzung von Christian Stückl und bin ihm dankbar, dass er mir vertraut.

Die Zukunft der Oberammergauer Festspiele beschäftigt Stückl. (Archivbild)
Die Zukunft der Oberammergauer Festspiele beschäftigt Stückl. (Archivbild) © Sven Hoppe/dpa

"Appropriate“ ist in diesem typischen amerikanischen Realismus geschrieben. Der ist…
…fast schon filmisch. Das ist mein erstes Familiendrama und ich merke, es macht mir total Freude, diesen Broadway-Schnack zu finden. Es geht beim Spielen viel um genaue, psychologische Arbeit. Man muss direkt am Gedanken dranbleiben, damit dieser unmittelbare Klipp-Klapp entsteht. Die Herausforderung eines solchen "Kommunikationsstücks“ macht mir großen Spaß.

Lola Dockhorn in "Appropriate“.
Lola Dockhorn in "Appropriate“. © Arno Declair

Ihre erste große Rolle hatten Sie in dem Film "Einer wie Bruno“ von 2011. Da waren Sie eine Tochter, die sich um ihren geistig zurückgebliebenen Vater, gespielt von Christian Ulmen, kümmern musste. Sie wurden damals für den Deutschen Schauspielerpreis als beste Nachwuchsschauspielerin nominiert. Wie sind Sie damals an diese Rolle herangegangen?
Ach, das ist so lange her, da war ich 13, 14 Jahre alt! Ich habe mich in dem Alter eher intuitiv der Rolle genähert, war dabei viel im Austausch mit Regisseurin Anja Jacobs und Christian Ulmen. Ich weiß noch, wir haben in Stuttgart gedreht und ich hatte ein eigenes Hotelzimmer. Ich habe da abends immer Musik gehört, die mich für die Rolle inspiriert hat. Ich mache das nicht immer, aber jetzt, für Toni habe ich mir wieder eine kleine Playlist zusammengestellt. Wir haben bei den Proben oft analytisch-psychologisch über die Figuren nachgedacht, was ich auch sinnvoll finde. Aber um ein Gefühl für die Farbe einer Figur zu bekommen, für ihre Körperlichkeit, ihre Seele, braucht es auch einen intuitiven, assoziativen, emotionalen Zugang. Dafür ist Musik ein guter Schlüssel.

Welche Musik steht für Toni auf Ihrer Play-List?
(Sie schaut in ihrem Handy nach). Zum Beispiel die "Mysteriensonate Nr. 1“ von Heinrich Ignaz Franz von Biber. Ich sehe Toni, wie sie ganz heimlich dieses Stück hört, sich dabei entspannt.

Schön. Das könnte man sich vielleicht zur Vorbereitung des Aufführungsbesuchs anhören.
Nur zu.

Die Premiere am 31. Oktober, 19.30 Uhr, ist ausverkauft. Restkarten evtl. an der Abendkasse, wieder am 8. und 9. November, 19.30 Uhr

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