Alkohol, Sekten, Trash-Horror: „Doctor Sleep“ von Stephen King

In "Doctor Sleep" Stephen King sehr viel von sich selbst Preis. Und am 19. November kommt der Meister nach München!
Florian Koch |
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Der Kopf dröhnt, das Herz pocht, der Magen rebelliert. So geht es Dan, als er nach einem Filmriss in einer schäbigen Absteige aufwacht. Neben ihm eine schnarchende, splitternackte Frau, in ihm das Verlangen, der „Guten-Morgen"-Peinlichkeit zu entgehen. Alles eine Frage von Sekunden. Wenn da nicht dieser erst anderthalbjährige Bub voller Blutergüsse wäre, der mit vollen Windeln nach seiner Mama ruft und plötzlich ganz scharf auf „Zucka!" ist. Das es sich dabei um Koks handelt, erschwert Dans Fluchtreflex. Hastig entfernt der Säufer das weiße Pulver vom Couchtisch, klaut seinem One-Night-Stand aber noch etwas Bargeld und macht sich doch stillschweigend auf die Socken. Verantwortung, Mitleid, Hilfe - nein, Danke!

Ausführlich und nicht nur einmal schildert Stephen King in seinem „Shining"-Nachfolger „Doctor Sleep" diese Albtraum-Szene. Horror ist beim Grusel-König auch eine Frage der Wiederholung. Fast alle Trauma-Motive seiner mit Spannung erwarteten Fortsetzung hat er hier konzentriert. Häusliche Gewalt, Alkoholismus, menschliche Abgründe. Dan ist der Sohn von Jack Torrance, dem Jack Nicholson in der von King ungeliebten Stanley-Kubrick-Verfilmung ein so teuflisch-geniales Gesicht gab.

King, ansonsten kein Freund von Fortsetzungen, interessierte sich dafür, was aus dem kleinen Dreiradfahrer mit der Hellseher-Gabe geworden ist. Im Schnelldurchlauf und in knappen, kurzatmigen Sätzen und Kapiteln lässt er Dan in „Doctor Sleep" erwachsen werden. Die Geister aus dem Overlook-Hotel sind noch lebendig, aber mit Hilfe seines Freundes und Retters Dick Hallorann findet er Wege, den Horror im Kopf wegzusperren. Das hindert den rastlosen jungen Mann jedoch nicht daran, den gleichen Fehler zu machen wie sein Vater: Dem Alkohol zu verfallen. King lässt keinen Zweifel daran, dass die Sucht nach Hochprozentigem erblich ist und erst ein teuflisch-heilsamer Schock ein Umdenken auslöst. Für Dan, der mit Feuerwasser seine „Shining"-Geistererscheinungen und seinen Zorn bekämpft, ist der Junge mit den Blutergüssen ein schrecklich-lehrreiches Spiegelbild. Auch er war der Gewalt seines Vaters ausgesetzt, die Mutter häufig nicht da, um ihn zu beschützen.

Im Gegensatz zu „Shining", diesem wilden, klaustrophobischen Frühwerk aus den späten 70ern, öffnet King in „Doctor Sleep" den Raum und verknüpft in geschickt verknoteten Handlungssträngen die Schicksale mehrerer Figuren. Nicht fehlen darf bei King wie in „Carrie" das besonders begabte Mädchen.

Abra heißt die Kleine und noch ehe man Abrakadabra sagen kann, kommen ihre „Shining"-Kräfte ans Licht, als sie vor der Katastrophe des 11. Septembers zu Schreien beginnt. Dan wiederum erhält die Chance auf Wiedergutmachung, in dem er in einem Kleinstadt-Hospiz als „Doctor Sleep" den sanften Tod wahr werden lässt.

Nebenbei erzählt King einfühlsam von seinen Härten, trocken zu bleiben und den moralinsauren Treffen der Anonymen Alkoholikern. Man merkt, hier weiß einer, was er schreibt. King ist selbst trockengelegt.

So stark und glaubwürdig der Bestsellerautor die inneren Kämpfe und Qualen von Dan herausarbeitet und so faszinierend er das Wesen der „Shining"-Gabe, eine Mischung aus Telepathie, Telekinese und Hellseherei, beschreibt, so überraschend plump fällt diesmal der Horror aus. Eine rothaarige, sexy Einzahn-Hexe führt eine Wohnwagen-Sekte namens der „Wahre Knoten" an. Deren uralte Mitglieder ernähren sich vom „Steam", einer Lebensenergie, die nur Kinder mit der „Shining"-Gabe besitzen. Ihre satanischen, an Horror-Trashfilme erinnernden Rituale wirken so albern, wie ihre Suche nach Abra vorhersehbar ist. Wenn Stanley Kubrick noch lebte, hätte er über diese plakativen Geisterbahn-Passagen sicher nur den Kopf geschüttelt.


Stephen King: „Doctor Sleep“ (Heyne, 704 Seiten, 23 Euro).

19. November, 20.30 Uhr: Lesung: Stephen King, Circus Krone, 29 Euro, Reservierung nur per Mail: krimifestival (at) t-online (dot) de

 

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