Abrechnung und Liebeserklärung

Peter Handke antwortet Samuel Beckett: Jossi Wielers Doppel-Inszenierung in den Kammerspielen
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Peter Handke antwortet Samuel Beckett: Jossi Wielers Doppel-Inszenierung in den Kammerspielen

Auf der Bühne werden erfundene Figuren zu Personen aus Fleisch und Blut. Und manchmal gebiert so eine Figur eine weitere: Die Frau, deren sich der alte Schriftsteller Krapp in Samuel Becketts Monolog-Klassiker „Das letzte Band“ erinnert, hat Peter Handke 50 Jahre später in seinem Monolog „Bis dass der Tag euch scheidet oder eine Frage des Lichts“ zum Leben erweckt und lässt sie auf Krapp antworten. Jossi Wieler inszenierte den Beckett/Handke-Doppelabend im August für die Salzburger Festspiele, bei der München-Premiere der Koproduktion in den Kammerspielen gab es viele Bravos für das subtile, eindringliche Spiel von André Jung und Nina Kunzendorf.

André Jungs Krapp ist ein Gefangener: gefangen in seinen Gewohnheiten, seinem Kunstanspruch, seiner Einsamkeit sitzt er in einem käfigahnlichen Kasten (Bühne: Anja Rabes) vor seinem Tonband und gräbt in Erinnerungen. Regisseur Jossi Wieler erlaubt ihm eine selbstironische Komik wie eine Banane im Schoß als Bild einer Selbstkastration.

Dann öffnet sich die schwarze Wand, die Frau betritt die Bühne. „Mein Spiel jetzt“, sagt sie, und was sie dem „Meister des Spiels“ zu sagen hat, ist nicht nur die Abrechnung einer namenlosen Lebensgefährtin mit dem Egozentriker Krapp, sondern auch eine von Peter Handke mit Samuel Beckett. Dem resignierten Kammerton Krapps setzt Nina Kunzendorf einen hellen, heiteren entgegen. Sie ist so jung wie in Krapps Erinnerung, sie ist in ihren Gefühlen lebendig geblieben. Sie hat Krapp in ihrem langen Zusammenleben durchschaut, analysiert ihn in direkter Ansprache ohne Bitterkeit und ohne Triumph über seinen Tod, denn sie hat sich immer ihre innere Freiheit bewahrt.

Die sich ständig unmerklich verändernden Videos (Stefan Bischoff) verwandeln die steinernen Arme zweier Grabstelen in lebendige, zeigen riesige Details aus dem Alltag des Paars: den Schlaf, ein Frühstück, Krapps Aschenbecher neben der Schreibmaschine, einen wippenden Frauenfuß. Am Ende legt die Frau dem stumm lauschenden Krapp einmal zärtlich die Hand an den Hals – ihre Lebensbilanz ist auch eine große Liebeserklärung.

Gabriella Lorenz

Kammerspiele, 4., 12., 27., Nov., 20 Uhr, Tel.23396600

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