Abonnentenschreck trotz Sinnlichkeit
Musikalisch-erotische Provokation mit Schlagzeilengarantie: Alban Bergs „Lulu“ in der Regie von Vera Nemirova hat am Sonntag in Salzburg Premiere
Bellt das Publikum zurück, scheint sie das nur schwer akzeptieren zu können. In einem Radio-Interview wird Regisseurin Vera Nemirova überraschend deutlich: „Man kann in eine Galerie gehen und auf ein Bild spucken, wenn es einem nicht gefällt. Dafür wird man verhaftet. Aber wenn man in der Oper mitten in die Musik hinein Buh schreit, da sagt keiner was.“ Auch mag sie es nicht, dass man sie noch immer als Schülerin von Peter Konwitschny bezeichnet. Vera Nemirova, 1973 in Sofia geboren und seit 1982 in Deutschland, wo sie in Berlin studierte, geht längst eigene Wege. Für Konwitschny inszenierte sie in Hamburg den Autodafé-Akt in Verdis „Don Carlo“, eine entfesselte Orgie der Gewalt durchs Opernparkett, die den Abonnenten gehörigen Schrecken einjagte.
Wie auch ihre Regie in Kalmans „Gräfin Mariza“ für die Wiener Volksoper. Da wurden die Gegensätze zwischen arm und reich ziemlich zugespitzt präsentiert: die Landbevölkerung in Trainingshosen und zerschlissenen Anoraks, die Zigeuner als Touristen-Schrecks, ein trostloses Ambiente mit Transistorradio und Dixie-Klo – selbst Belanglosigkeiten geben sich bei Vera Nemirova aggressiv.
Sticheln gegen Seh- und Hörgewohnheiten
In Salzburg inszeniert sie Alban Bergs „Lulu“, und es ist zu erwarten, dass sie auch dort kein Pardon kennt. Die Titelpartie singt die Französin Patricia Petibon, die erst unlängst in Genf durch eine ziemlich drastische „Lulu“-Produktion von Olivier Py irren musste, die von den Schweizer Behörden als „nicht jugendfrei“ eingestuft wurde. Py ließ das letzte Bild in einem Pornokino spielen und geizte dabei nicht mit einschlägigen Video-Zuspielungen.
Vera Nemirova hält trotz drastischer Effekte in ihren Inszenierungen nichts von einer Provokation um jeden Preis. Sie will „Geschichten erzählen, möglichst schlüssig, möglichst sinnlich erlebbar“. Aber natürlich auch gegen konventionelle Seh- und Hörgewohnheiten sticheln – schließlich sind Schlagzeilen immer gut. Und in einer Inszenierung von Mozarts „Zauberflöte“ dem Tamino statt einer Flöte eine Partitur in die Hand zu geben, hat ja auch einen Unterhaltungswert, Werktreue hin oder her.
Ursprünglich sollte Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Doch der sagte ab, so dass in Salzburg Marc Albrecht die Wiener Philharmoniker befehligen darf. Er stand schon bei der Genfer Produktion im vergangenen Februar am Pult. Die Meinungen über ihn waren geteilt. Ob Daniel Richters Bühnenbilder überzeugen können, wird sich weisen.
Volle, Breslik Baumgartner - was will man mehr?
Dass man auf die dreiaktige Fassung zurückgreift, die Harnoncourt nicht wollte, macht das Salzburger Experiment zum 125. Geburtstag und 75. Todestag des Komponisten umso spannender. Denn die von Friedrich Cerha vollendete „Lulu“ birgt eine Menge Fußangeln.
Neben Patricia Petibon in der Titelpartie bietet Salzburg auch in den übrigen Rollen ein hochkarätiges Ensemble: Michael Volle singt den Dr. Schön, Tanja Ariane Baumgartner die Gräfin Geschwitz. Außerdem dabei Pavol Breslik, Thomas Piffka, Franz Grundheber, Heinz Zednik.
Was überrascht: die sechs geplanten Vorstellungen sind nicht ausverkauft. Noch immer scheint „Lulu“ den Makel zu haben, nur bedingt festspieltauglich zu sein. Der Regisseurin Vera Nemirova mag das egal sein. Sie ist bis 2014 ausgebucht.
Volker Boser
„Lulu“, am 1., 4., 6., 11. 14. und 17. August. Karten unter www. salzburgticket.com