192 Stunden Existenz-Test

Nicht die Spur von „Ekel“-Erregung, niemand zählt Nackte oder Tote nach, kein Spott nirgends – das könnte ein harmonisches Fest werden. Oder ein berechenbares - Am Freitag beginnt das Berliner Theatertreffen. .
von  Abendzeitung

Nicht die Spur von „Ekel“-Erregung, niemand zählt Nackte oder Tote nach, kein Spott nirgends – das könnte ein harmonisches Fest werden. Oder ein berechenbares - Am Freitag beginnt das Berliner Theatertreffen. .

Der offizielle Schlachtruf „Nach Berlin!“, der über dem 45. Theatertreffen steht, ist Tschechow-Freunden mit anderer Ortsangabe geläufig. Aber man wird die Sehnsucht ja mal von Moskau an die Spree umlenken und entsprechende Euphorie erwarten dürfen. Wenn ab Freitag die Kritiker-Jury an 16 Tagen ihre saisonalen Top-Ten der deutschsprachigen Bühnen vorstellt und damit die heimlichen Börsennotierungen des Regietheaters aktualisiert, leuchtet München blitzartig voraus. Frank Baumbauers Kammerspiele, die neben dem ebenfalls doppelt vertretenen Deutschen Theater Berlin die Spitzengruppe der Auslese besetzen, geben mit Stefan Puchers Shakespeare-„Sturm“ im Dis- co-Fieber und Thomas Ostermeiers Fassbinder-Nachschlag „Die Ehe der Maria Braun“ zunächst mal den Ton an. Das Staatsschauspiel hatte es mit Martin Kušejs „Woyzeck“ nur beinahe geschafft – auf den ersten Ruf hinein in Bayerns Provinz wird weiter vergeblich gewartet.

Kaum Neues

Von der Ankündigung überraschender Trends haben die Juroren diesmal Sicherheits-Abstand genommen. Mehr als 200 Produktionen zwischen Hamburg, Wien und Zürich konnten sie begutachten, zu Beginn der entscheidenden Debatte wurden immerhin noch 64 davon für diskutabel gehalten. Aber das „wirklich Neue“, so verlautet aus dem Kreis der Vorkoster ernüchternd, blieb auf den Erkundungsreisen die Ausnahme. Beim Festival steckt es wohl ganz und gar im Performance-Duo Sorensen/Köstler, das in Köln „Die Erscheinungen der Maria Rubin“ als rund um die Uhr zugänglichen Erlebnis-Parcours einer Parallel-Welt mit Mensch und Kulisse und allen Schikanen arrangierte und damit nun in eine Schöneberger Lokhalle zieht. 192 Stunden Zeit für Existenz-Testen. Da wird dem Besucher offenes Herz und bequemes Schuhwerk dringend empfohlen.

Die üblichen Verdächtigen

Den großen Rest machen die üblichen Verdächtigen unter sich aus, vom plakativen Minimalisten Michael Thalheimer über den spröden Intensiv-Poeten Jürgen Gosch, vom auch als Autor Fritz Kater bekannten Armin Petras über die etablierten Aufrücker Sebastian Nübling und Jan Bosse bis zum absolut mehrheitsfähigen Kult-Kauz Christoph Marthaler. Bunt ist die Farbe, auf die man sich einstellen darf.

Aufregender, nicht nur für die Betroffenen selbst, wirkt die Promi-Galerie der zuletzt dann doch Aussortierten. Sie schmollen verhalten. Schaubühnen-Legende Peter Stein fiel mit seinem „Wallenstein“ durch, Design-Artist Robert Wilson mit der „Dreigroschenoper“, Sensibilitäts-Matador Luc Bondy mit „König Lear“. Und die in der ewigen Besten-Liste weit vorn platzierten Altmeister Claus Peymann und Dieter Dorn tauchten gar nicht erst auf. Ein Schicksal, das sie mit dem so ganz anders gestrickten ewigen Volksbühnen-Anarchisten Frank Castorf teilen, der nach Jahren pauschaler Verehrung nun mit Juroren-Liebesentzug bestraft wird.

Bei Analyse der per Kampfabstimmung gesiebten Jahres-Ausbeute ergeben sich besondere Schwerpunkte. Berlin wäre demnach mit 12 der 64 Endrunden-Teilnehmer die einsam führende Theaterstadt. Was am ehesten die Berliner selbst anzweifeln. Jedenfalls kann statistisch weder Hamburg (7 in der Auswahl) noch Wien oder München (je 6) mithalten. Bei den Bühnen liegt Klaus Bachlers Burgtheater-Auslaufmodell mit allein sechs diskussionswürdigen Abenden vor dem Deutschen Theater Berlin und den Münchner Kammerspiele (je 5).

Jürgen Gosch im zweiten Frühling

Von den Regisseuren führt Jürgen Gosch im andauernden zweiten Frühling (drei seiner übers Land gestreuten Inszenierungen galten als „bemerkenswert“) vor Michael Thalheimer, Christoph Marthaler, Nicolas Stemann, Armin Petras und dem Schreikrampf-Dramatiker René Pollesch. Den großen Dominator, der in den Top-Ten wie einst Zadek und Stein pro Jahr gleich mehrere Plätze erobert hätte, gibt es 2008 nicht.

Vor ihren eigenen originellen Ideen schreckten die Juroren am Ende zurück. So wird der doppelte „Faust“ aus der östlichen Theater-Enklave Senftenberg doch nicht in den Berliner Adelsstand erhoben und auch Harald Schmidt als pocherfreier Moderator seiner höchstpersönlichen Stuttgarter Nostalgie „Elvis lebt. Und Schmidt kann es beweisen“ fand letztlich keine Mehrheit als Theater-Prototyp. Ein gefundenes Fressen für den zuverlässig zornigen Peymann. Er hatte, seit er nicht mehr gerufen wird, schon mal ein Gegen-Festival organisiert. Jetzt lässt er im Mai demonstrativ Harald Schmidt am Berliner Ensemble auftreten.

Dieter Stoll

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