Virologin Ulrike Protzer: Baldige Lockerungen sind unwahrscheinlich
AZ: Frau Professor Dr. Protzer, ist es denkbar, dass gar kein Corona-Impfstoff möglich ist?
ULRIKE PROTZER: Theoretisch ist das schon möglich. Es ist nicht einfach, Impfstoffe gegen Atemwegserreger zu entwickeln. Wir wissen, dass von anderen Viren, gegen die man schon seit Jahrzehnten vergebens einen Impfstoff sucht. Aber wir haben auch für viele Erreger Impfstoffe, die sehr gut funktionieren, und deshalb gehe ich davon aus, dass wir einen hinbekommen.

Darum nimmt die Todesrate ab
Es gibt eine Theorie, dass sich das Coronavirus abschwächt, um sich schneller verbreiten zu können. Können die gesunkenen Sterberaten damit in Verbindung stehen?
Wenn die Zahl der Todesfälle abnimmt, dann kann es daran liegen, dass wir diejenigen, die empfindlicher oder älter sind oder Vorerkrankungen haben, besser schützen. Je jünger und gesünder man ist, umso geringer ist die Chance, daran zu sterben. Außerdem überschätzt man die Todesraten am Anfang solcher Infektionen immer, weil man die Zahl der Infizierten unterschätzt. Je mehr man testet, desto realistischer ist die Zahl der wirklich Infizierten und umso stärker nimmt die Todesrate ab.
Daraus kann man also nicht schließen, dass das Virus weniger gefährlich geworden ist?
Das wäre die dritte Möglichkeit. Für eine Abschwächung des Virus gibt es aber bisher keinen gesicherten Hinweis. Typisch ist es schon, dass Viren, die vom Tier auf den Menschen überspringen, irgendwann weniger pathogen werden, was aber nicht so schnell geht. Das hängt damit zusammen, dass Menschen, die schwer krank sind, nicht herumlaufen und das Virus verbreiten, während diejenigen, die nicht oder nicht schwer erkrankt sind, das Virus verbreiten. Also: Logisch ist es schon, dass es zu einer Abschwächung kommt, aber leider gibt es dafür keine gesicherten Daten.
Kosten pro Corona-Test sind relativ hoch
Bayern verfolgt die Strategie des maximalen Testens. Sie haben sich zu Massentests einmal skeptisch geäußert. Wie sehen Sie das heute?
Jeder dieser Tests kostet insgesamt relativ viel Geld. Man muss sich daher überlegen, welchen Effekt man mit einer bestimmten Summe erzielen kann. Wenn blind in der Bevölkerung getestet wird, man aber weiß, dass nur einer von zehntausend positiv ist, dann sind 9999 Tests negativ. Ganz blind zu testen halte ich daher für schwierig. Man sollte schon gezielt testen.
Sind die Tests an den Grenzen blind oder gezielt?
Bei den Reiserückkehrern ist die Situation anders. Hier sind 1,5 Prozent positiv und nur 98,5 Prozent negativ. Das ist eine ganz andere Relation. Bei den Reiserückkehrern zu testen, macht absolut Sinn.
Müsste man in Sachen Reise stärker auf die Bremse treten?
Wir setzen auf die Verantwortung jedes Einzelnen. Große Teile der Welt sind Risikogebiete und für die gibt es eine klare Reisewarnung und eine Quarantäne-Einreiseverordnung. Wer in einem Risikogebiet war, muss bei der Rückkehr mindestens so lange in Quarantäne bleiben, bis er ein negatives Testergebnis erhält. Ich bin in diesem Fall also verpflichtet, auf dieses Ergebnis zu warten, auch wenn es drei Tage dauert. Man muss an das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen appellieren. 90 Prozent aller Menschen in Deutschland halten sich auch dran. In einem Risikogebiet Urlaub zu machen, nur weil es da gerade billig ist, ist unverantwortlich.
Wie schaut es mit der Wiederaufnahme des Regelschulbetriebs aus?
Es kann funktionieren, wenn wir es schaffen, das Infektionsgeschehen so kontrolliert zu halten wie derzeit. Wenn wir in anderen Bereichen unvorsichtig werden, riskieren wir die Öffnung der Schulen und Kitas. Wenn man abwägt zwischen Kita und Party, dann ist doch klar: Die Kita ist das, was wichtig ist. Und da muss man auf risikoträchtige Dinge wie einen billigen Urlaub oder eine Party eben verzichten.
Was raten Sie in der gegenwärtigen Lage: die Corona-Schutzmaßnahmen beibehalten, lockern oder sogar verschärfen?
Wir hatten über den Sommer eine gewisse Entspannungspause. Draußen ist das Risiko einer Infektion sowieso geringer. Im Herbst allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass wir weiter lockern können. Ich befürchte sogar, dass wir einige Schrauben wieder anziehen müssen, wenn wir feststellen, dass wir zu viel Infektionen haben, um beispielsweise die Schulen offen zu halten. Im Herbst haben wir außerdem immer viele andere Erkältungskrankheiten. Um Weihnachten und Anfang des Jahres gibt es in der Regel eine Grippewelle. Wir werden viel Unsicherheit haben. Viele Patienten werden zu den Hausärzten kommen, weil sie nicht wissen, was sie haben. Für den Gesundheitsdienst wird das noch einmal eine anspruchsvolle Zeit werden.
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