„Z 3526“ sucht seine Eltern
MÜNCHEN - Der Münchner Sinti-Bub Mano Höllenreiner war als Kind in Auschwitz, Ravensbrück und Sachsenhausen. Franzosen retten ihm das Leben und nehmen ihn mit. Erst Jahre später findet er seine Familie wieder.
Der Vater will sich verabschieden von seinem Sohn, einmal noch hin zu ihm. Doch als er über den Platz im KZ Sachsenhausen läuft, holt ihn ein SSler ein, schlägt ihm auf die Nase. „ Immer wieder, der hat nicht mehr aufgehört, es hat geblutet. Da hab’ ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen“, sagt Mano Höllenreiner und stockt. „Dann war ich ganz allein.“ Der 75-jährige Mann sitzt daheim in seinem Wohnzimmer. Wenn er über die schlimmste Zeit seines Lebens spricht, dann verschlägt es ihm immer wieder die Sprache. Der Sohn einer Münchner Sinti-Familie hat drei Konzentrationslager überlebt. Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Sachsenhausen. Nach der Befreiung nahmen Franzosen das halb tote Kind mit nach Frankreich – erst im Dezember 1946 fanden die Eltern ihren Sohn wieder.
Lange hat er geschwiegen, doch jetzt will er sagen, was war. „Ich schwöre, dass es genau so war“, sagt er oft. Wenn er von Auschwitz erzählt, wo er der Stiefelputzer Mengeles war und der Zwangssterilisation nur entging, weil er sich zwei Tage unter der Baracke versteckt hat. Wo ein SS-Mann einer Jüdin ein Kind gemacht und es mit den Stiefeln totgetreten hat. Und wo die Kinder den Toten das Essen aus den Händen genommen haben, um selbst weiterleben zu können. Manchmal bricht er mitten im Satz ab uns sagt: „Ach, ich sollte nicht soviel... sonst kann ich wieder nicht schlafen.“
Nach dem Abschied vom Vater ist Mano allein
Im März 1943 wird die Familie ins „Zigeunerlager“ in Birkenau gesperrt, von dort nach Ravensbrück gebracht. Danach kommt Mano mit seinem Vater nach Sachsenhausen. Der Vater wird Ende 1944 aus dem KZ in die Sturmbrigade Dirlewanger berufen, Kanonenfutter im aussichtslosen Kampf gegen die Russen.
Nach dem Abschied vom Vater ist Mano allein. Und er muss mit auf den „Todesmarsch“. Als die Russen näher kommen, räumen die Nazis das KZ Sachsenhausen – Tausende sterben auf dem Weg. „Wenn einer hingefallen ist, weil er nicht mehr konnte – bumm, erschossen“, sagt Höllenreiner. „Für euch sind zwei Kugeln zu schade“, sagt ein SSler unterwegs zu einem Vater und seinem Sohn. Dann muss sich der Sohn vor den Vater stellen und der Mann schießt in den Mund des Buben. „Ich stand direkt daneben“, sagt Mano. Auch als ein Panzerspähwagen einem Kind über den Kopf fährt. „Da, wo der Kopf war, war nichts mehr.“
Erzählt hat er all das auch der Autorin Anja Tuckermann. Sie lernte ihn kennen, als sie über Manos Cousin Hugo Höllenreiner ein Buch schrieb – er war Opfer der medizinischen Versuche Mengeles. Bis dahin war das Thema tabu. „Wir haben nicht übers KZ gesprochen, auch mit den Eltern nicht“, sagt er. Mano kam mit, als Hugo Höllenreiner 2003 mit der Autorin nach Auschwitz fuhr. Da begann auch er zu erzählen. Jetzt hat Anja Tuckermann Manos Geschichte aufgeschrieben. „Mano – der Junge, der nicht wusste, wo er war“ erzählt in Rückblenden vom KZ, befasst sich vor allem mit der Zeit nach dem Krieg.
"Sag’ bloß nicht, dass du Deutscher bist."
Denn die Odyssee war für Mano nach der Befreiung noch nicht vorbei. Dem Tod nahe bricht der Elfjährige zusammen. Andere KZ-Kinder legen ihn auf einen Wagen zu befreiten französischen Kriegsgefangenen. Die nehmen ihn mit nach Frankreich. „Sie haben mir gesagt: ,Sag’ bloß nicht, dass du Deutscher bist, die Franzosen mögen die Deutschen nicht’“, erzählt er. Er sagt nur seinen Vornamen, die Franzosen schleusen ihn als französischen Juden ein.
Der Bub kommt zunächst zur Familie Foquet in die Nähe von Paris, deren Sohn Paul für ihn wie ein großer Bruder wird. Sie päppeln das kranke Kind auf, gewöhnen es langsam ans Essen. Von seinen Eltern erzählt Mano nichts, seinen Namen verrät er nicht – aus Angst, dass man ihn tötet oder wegschickt, weil er Deutscher ist. „Ich habe ja gedacht, meine Familie ist tot.“
Später kommt er in eine Pflegefamilie in Le Havre – vermittelt von der Resistance-Aktivistin Madeleine Marcheix-Thoumyre, die einen Suchdienst für Verschleppte gegründet hat. Sie wird mütterliche Freundin und fragt den verstörten Buben immer wieder nach seinen Eltern. Sie lässt ihn mit seiner KZ-Nummer „Z3526“ fotografieren und bei den Auschwitz-Überlebenden registrieren. Doch Mano verrät nicht viel. Fatal, denn die Eltern haben überlebt und suchen nach ihrem Sohn. Der heißt inzwischen „André Manot“ und man hält ihn für einen Juden, der womöglich aus Ungarn kommt.
Sein Vater war Artist beim Zirkus Krone
Ganz allmählich gibt er Dinge preis – dass sein Vater beim Zirkus Krone in München Artist war. Und er nennt den Namen Höllenreiner, er behauptet, das seien Freunde der Eltern – der entscheidende Hinweis. Über den Suchdienst „Unra“ kommt die Familie im Dezember 1946 zusammen. Die fortlaufenden Häftlingsnummern auf dem Armen von Vater und Sohn sind der Beweis, dass Mano der Gesuchte ist.
„Die Franzosen haben mich gerettet“, sagt Mano Höllenreiner heute. Seinen „Bruder“ Paul hat er nie vergessen – und wie durch ein kleines Wunder hat er ihn nach 62 Jahren wiedergefunden. Pauls Cousine, die im Elsass lebt, schaute im deutschen Fernsehen eine Doku über die Ermordung der Sinti und Roma, in der auch Mano Höllenreiner kurz auftaucht. Über den Sender bekam sie den Kontakt – und rief einfach bei Höllenreiners an. Inzwischen hat Mano auch Paul getroffen, er hatte noch alle Fotos.
Nächste Woche fährt Mano wieder hin. Er wird ihm das Buch zeigen, das auch durch seine Mitarbeit entstanden ist. Das Buch ist für Mano Höllenreiner ein Stück Therapie. Die Bilder haben ihn jahrzehntelang gequält. „Bis vor wenigen Jahren hat er nachts so laut geschrien, dass es unsere Tochter im oberen Stockwerk hören konnte“, sagt seine Frau Else und Mano wirft ein: „Ich hab’ immer die SS gesehen, immer.“ Manchmal hat er auch Panik bekommen, hat um sich geschlagen. „Das ist vorbei“, sagt er. Seit er begonnen hat, darüber zu sprechen, sind die Albträume weg. Und er will, dass viele seine Geschichte und die der anderen kennen. Das Erinnern, sagt er, ist so wichtig. Er lebt in Mettenheim, wo sein Vater ein Haus gekauft hatte. Erst später erfuhr er: Dort war früher Mettenheim1, ein Außenlager des KZ Dachau. Einen Gedenkstein gibt es hier nicht.
Tina Angerer
Anja Tuckermann: „Mano – der Junge, der nicht wusste, wo er war“, Hanser, 17,90 Euro
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