Den Song einfach mal dreckig singen

Deutsches Theater: Das Musical „Cabaret“ in der Originalsprache in einer Produktion des English Theatre aus Frankfurt
Mathias Hejny |
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Im berühmt-berüchtigten Kit Kat Klub: Helen Reuben als Show-Girl Sally Bowles mit dem zwielichtigen Conférencier (Greg Castiglioni).
Kaufhold Im berühmt-berüchtigten Kit Kat Klub: Helen Reuben als Show-Girl Sally Bowles mit dem zwielichtigen Conférencier (Greg Castiglioni).

Das Leben sei ein Cabaret, heißt es im Titelsong, aber der britische Regisseur Tom Littler sieht das Leben vor allem als Wartesaal, in dem der Mensch nur auf der Durchreise ist und niemand genau weiß, wohin der Weg führt.

Im Wartesaal des Lebens

Für die Produktion von „Cabaret“ des English Theatre Frankfurt baute Ausstatter Simon Kenny die Halle eines großen Bahnhofs, überwölbt von Stahlträgern und durchweht vom Qualm der Dampflokomotiven. In einem waggonartigen Aufbau spielt die Band mal sichtbar, mal verdeckt.
Das 1966 in New York uraufgeführte und 1972 mit Liza Minelli in München verfilmte Musical von John Kander, Fred Ebb und Joe Masteroff ist ein Klassiker, dessen Tanz-auf-dem-Vulkan-Stimmung vor dem Hintergrund der präfaschistischen Gesellschaft im Berlin der späten 1920er-Jahre in unserer Gegenwart eine beunruhigende Renaissance erlebt. Wenn kurz vor der Pause die erste Hakenkreuz-Armbinde gelüftet wird und die völkische Hymne „Tomorrow Belongs To Me“ erklingt, heben sich auf der Bühne wie von selbst die rechten Arme.

Was kann denn nach Inflation und Revolution noch passieren: alles!

„Die Party ist vorbei“, brüllt der amerikanische Schriftsteller Cliff, der für ein neues Buch auf Berlin-Besuch ist, die englische Sängerin Sally an. Doch weder sie noch die anderen erkennen die Bedrohung – nicht einmal der jüdische Obsthändler, der sich selbstverständlich als Deutscher fühlt. Das gehe bald wieder vorbei, so Herr Schulz. Den netten, alten Herren, der seine Angebetete mit Südfrüchten verwöhnt, spielt Richard Derrington herzerwärmend.
Regisseur Littler erzählt die Romanze zwischen Herrn Schulz und der Zimmerwirtin Fräulein Schneider (Sarah Shelton), die zuversichtlich ist, nach Krieg, Revolution und Inflation auch den Nationalsozialismus zu überleben, sehr aufmerksam. Diese ist die zweite Liebesgeschichte neben der von Cliff Bradshaw (Ryan Saunders) und Sally Bowles. Weniger sorgfältig geht die Regie mit den Dialogen um, und in „Cabaret“ wird mehr geredet als in Musicals sonst üblich. Sieht man von der durchweg starken Helen Reuben als Sally Bowles ab, schleppen sich die Dialogpassagen mit hölzernem Rumstehtheater von einer Musiknummer zur nächsten.

Alles auf Englisch und das textlastig

Für Zuschauer, die sich ihr Schulenglisch nicht frisch hielten, ist der weitgehend englischsprachige und nicht übertitelte Abend keine reine Freude. Die kommt freilich mit der einfallsreichen Choreografie von Cydney Uffindell-Phillips auf. Zum Hit „Money, Money“ bewegt sich das Ensemble fast artistisch und der anzügliche Blödelsong „Two Ladies“ ist eine fröhlich verderbte Schuhplattlerei in bayerischer Tracht. Solchen Übermut hat der Conférencier (Greg Castiglioni), mit einer weißen Halbmaske so etwas wie das Phantom vom Cabaret, souverän im Griff.

Wer Helen Reuben sieht und hört, braucht keine Liza Minelli 

Die ganz große Glanznummer gehöt natürlich Helen Reuben, die als Tingeltangel-Sängerin ein mutiger Gegenentwurf zur seinerzeit glamourösen Liza Minelli ist. Ihre Sally kann mit britischer Stiff Upper Lip herrlich arrogant sein, aber auch böse und zickig. Das Leben säuft sie sich mit Gin und „Schnäps“ schön, und wenn sie den Titelsong singt, dann ist das keine triumphale Nummer zum Finale. „Live is a cabaret“ so dreckig und desillusioniert zu singen, muss man sich trauen können, und die hinreißende Reuben kann das.
   
Bis 30. März, Mi bis Sa 19.30 Uhr, Karten unter Tel. 55234444
 

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