Zwischen Asbest-Alarm und neuer Drehbühne

NÜRNBERG - AZ-Serie Teil 2: Nach der Eröffnung kam der Ausbau, dann der Umbau und schließlich die Suche nach Freiräumen: Wie Nürnbergs Schauspielhaus ein halbes Jahrhundert mit Architektur kämpfte.
Der österreichische Regisseur Georg Schmiedleitner, der in den letzten neun Jahren als regelmäßig wiederkehrender Gast die aufregendsten Aufführungen am Nürnberger Schauspielhaus schuf, und dafür die marode Technik oft bis zum Äußersten strapazierte (für Schillers „Die Räuber" ließ er die Bühne zwischen die Zuschauer montieren und bei Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald" mutierten die Bretter samt der ersten Parkettreihen zum Feuchtbiotop), hätte sich vom Nürnberger Stadtrat für 2010 einen kompletten Neubau gewünscht. Statt der laufenden Sanierung des schon 1959 als Kompromiss entstandenen Theaters. Doch die Verhältnisse, die sind nie so! Schauspiel-Chef Klaus Kusenberg, der vor Ort und mittendrin in den kurvenreichen politischen Entscheidungsprozessen steckt, hatte sowieso mit Schlimmerem gerechnet. Als die Baufinanzierung für das längst von der Schließung durch den Technischen Überwachungs-Verein bedrohte Gebäude, in dem aus Sicherheitsgründen Monat für Monat weniger bewegt werden konnte, auf den Planungspapieren immer abenteuerlicher wurde, hat er zeitweise wohl auch die Karriere eines obdachlosen Direktors gealbträumt.
Dann rollten die Sparwellen über die Planungen, erst im letzten Moment rang man sich doch noch zu der bereits gestrichenen Drehbühne durch, die künftig den Szenenwechsel vereinfachen und die Ausstattung beflügeln soll. Dennoch wird das Nürnberger Schauspielhaus auch 2010 bei der Wiedereröffnung weit hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die bei den Neubauten in Hof und Bamberg selbstverständlich geworden sind. Solche Defizite hat vor 50 Jahren keiner der Kommentatoren kommen sehen, die da überschwänglich „den Freudentag für Nürnberg" begrüßten. Sie konnten aber auch nicht wissen, dass die Stadt fortan von Umbau zu Umbau eine Notlösung auf die andere stapeln würde, getrieben von Bauplanungs-Defiziten, technischen Mängeln und der angsteinflößenden Wandlung des Wunder-Baustoffes Asbest. Die Geschichte des Schauspielhauses ist auch eine Geschichte der mindestens ebenso schwierigen Bau-Kunst.
Als das Haus im Herbst 1959 mit einer Kettenreaktion von Premieren eröffnet wurde, dem Gedränge bei „Wallenstein" sogleich der Aufmarsch von zwei Dutzend Akteuren bei Albert Camus' „Belagerungszustand" sowie noch ein Zauberwald voller Shakespeare-Geister folgte, musste alles auf die allzu groß geratene Bühne mit Parkett und Rang für 942 Zuschauer. Das war nach dem ersten Durchlauf der Neugierigen mit Dauergästen nicht zu füllen (heute schafft selbst das Opernhaus solche Zahlen selten), schloss aber vor allem die Möglichkeit zu intimen Aufführungen völlig aus. Um das zu ändern, hatte der Baureferent der Stadt dem eben erst der Öffentlichkeit übergebenen Gebäude eine Art architektonische Scheinschwangerschaft verpasst. Im ungenutzten Keller wurde, unter großzügiger Missachtung aller Ratschläge der Theatermacher, mit Eröffnung im Juli 1962 ein pragmatisch an die Gegebenheiten angepasster Raum zu „Kammerspielen" verwandelt. Mit dicken, tragenden Säulen zwischen den Reihen und einer flachen Cinemascope-Bühne, auf der man nach einem Bonmot des späteren Schauspieldirektors Hansjörg Utzerath nur eines ernsthaft spielen kann - nämlich Tischtennis.
Die Unzufriedenheit mit dem Raum ließ alsbald und dann mehrfach die Bühnenbildner eingreifen. Erstmals schon 1969, als Stavros Doufexis das Dürrenmatt-Stück „Play Strindberg" auf eine Boxring-Scheibe verlegte und die Zuschauer drumherum platzierte. Später, als Hansjörg Utzerath das Kellertheater gerne in ein Literatur-Café mit Dramatik im Ausschank verwandelt hätte. Im Testlauf wurde für „Selber schuld" von Fitzgerald Kusz, die bis heute einzige Tragödie des „Schweig, Bub"-Autors, der ganze Raum in eine Kneipe verwandelt. Das erregte den Zorn des zuständigen Stadtbaureferenten Otto Peter Görl, der die unterschwellige Kritik an seiner Arbeit nicht akzeptieren mochte und deshalb blockierte. So blieb von der großen Reform am kleinen Haus nichts, und selbst der Wettbewerb für einen schlagkräftigen Namen brachte nur Vorschläge wie „Kaleidoskop" und „Prisma" - was am Ende vorübergehend zum originellen Schild „Neue Kammerspiele" führte.
Görl hatte 1976, beim Direktoren-Wechsel von Hesso Huber zu Hans Dieter Schwarze, die erste Generalsanierung des Schauspielhauses gelenkt. Der Rang wurde gekappt, das Parkett wegen der besseren Sicht und der Akustik steil nach oben gezogen. Da waren's nur noch 539 Plätze, wenn auch in verdammt engen Reihen. Sitzproben litten bei Görl wie bei seinem Nachfolger Walter Anderle darunter, dass beide Herren um die 155 Zentimeter lichte Höhe einbrachten und somit eine Bequemlichkeit empfanden, die nicht jedermann mit ihnen teilen konnte.
1990 gab es Asbest-Alarm und direkt nach der Premiere von „Hitlerjunge Quex", ein Utzerath-Meisterstück und überhaupt eine der besten Aufführungen der 50 Jahre, die erneute Schließung. Bis 2008 wurde danach mit klagenden Blicken aufs schäbige Ambiente tapfer durchgespielt.
Die Versuche, andere Spielorte zu erobern, kamen in dieser Zeit mal kreativ und mal zwanghaft. Schwarzes „Volkstheater"-Modell, das dann so schnell scheitern sollte, hatte sich fürs Übergangsjahr auf die alte Messe, das Planetarium und einen Zirkuswagen mit Bühne eingelassen. Intendant Burkhard Mauer quartierte das Schauspiel ins Opernhaus und in den Alten Rathaussaal ein, wo es statt der Raum-Überraschung bloß einen anderen Guckkasten gab. Klaus Kusenberg hat neben dem Podium in der Kongresshalle noch Tafelhalle und Ka-Li als Notquartier. Die Suche nach Zugabe-Spielstellen, die auf Probebühnen oder im Foyer oft in Abseitsfallen landeten, funktionierte erst bei ihm überzeugend, als er im Oktober 2000 die Blue Box für weitgehend kulissenfreies Theater-Konzentrat im Zelt vor der Tür etablierte. Sie wird im neuen Haus unters Dach geholt. Dieter Stoll