Warum ist der Urlaub immer zu kurz? Zeitforscher aus München gibt Antworten

Zeit im Urlaub,- verfliegt bei Ihnen auch gefühlt jeder freie Tag in einer Sekunde? Und während der Arbeit geht sie nur schleppend vorbei. Warum ist das so? Und wie lässt sich die Zeit in den Sommerferien bewusster nutzen? Der Münchner Jonas Geißler ist wie sein Vater Karlheinz A. Geißler (†) Zeitforscher. Die beiden haben Bücher veröffentlicht, etwa „Time is honey“ und „Alles eine Frage der Zeit“ (zusammen mit Harald Lesch). Die AZ hat mit ihm gesprochen.
AZ: Herr Geißler, die Urlaubszeit ist für viele die schönste Zeit des Jahres. Bei Ihnen auch?
Jonas Geißler: Ja, die Urlaubszeit mag ich sehr gerne. Es gibt weniger zeitliche Verpflichtungen, etwa durch die Schule. Man ist selbstbestimmter im Umgang mit Zeit.
Viele fiebern das ganze Jahr über darauf hin – dann aber scheint der Urlaub ganz schnell vorbeizugehen, schneller als die Zeit während der Arbeit. Warum kommt uns das so vor?
Grundsätzlich ist es so: Je öfter wir auf die Uhr schauen, je mehr wir auf die Zeit achten, desto langsamer vergeht sie. Ich nehme als Beispiel das Wartezimmer beim Zahnarzt: Man schaut alle zwei Minuten auf die Uhr und die Zeit vergeht einfach nicht. Zudem gibt es ein zweites Wahrnehmungsphänomen: Wenn nichts Merk-Würdiges, nichts Wesentliches passiert, vergeht die Zeit im Erleben zwar langsam, in der Rückschau schrumpft sie dagegen. Die zwei Stunden im Wartezimmer werden uns also rückblickend kürzer erscheinen. Im Urlaub ist es umgekehrt: Da passiert meist Neues, Merk-Würdiges. Im Erleben fühlt es sich dadurch kurz an, in der Rückschau wird sich die Wahrnehmung aber verlängern.

Wie ist die unterschiedliche Wahrnehmung zu erklären?
Unser Gehirn gleicht immer ab: Kenne ich etwas schon? Wenn ja, macht es einen Haken dahinter - nichts Neues. Wenn ich im Urlaub jeden Tag nur am selben Strand liege, zur gleichen Zeit Essen gehe und das in einem Urlaubsort, den ich ohnehin schon kenne, dann passiert gefühlt nichts Neues, die Zeit wird in der Rückschau als kurz abgespeichert. Das ist auch der Grund, warum in einem zweiwöchigen Urlaub an einem Ort die zweite Woche schneller vergeht. Man kennt schon vieles und es geschieht weniger Neues.
"Bewusstheit bedeutet, nicht im Autopilot unterwegs zu sein"
Wie schafft man es, die freie Zeit im Urlaub bewusst wahrzunehmen?
Bewusstheit bedeutet, nicht im Autopilot unterwegs zu sein, sondern bewusst wahrzunehmen, was gerade in diesem Moment präsent ist. Im Urlaub kann ich mir hierfür schöne Anlässe schaffen: im Wald, in den Bergen oder am Strand spazieren, sich umschauen und die Umgebung mit möglichst allen Sinnen wahrnehmen. Wenn man allerdings einen Strandspaziergang macht und schon wieder über die nächste Zwei-Jahres-Strategie nachgrübelt, verliert man das Jetzt aus den Augen.
Es ist gar nicht immer so einfach, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, oder?
Kinder können das wahnsinnig gut. Wenn sie zum Beispiel in ein Spiel versinken, gibt es für sie nur das Jetzt. Erwachsene werden oft von den zeitlichen Verpflichtungen herausgerissen. Viele Menschen haben solche Jetzt-Momente etwa beim Sport, bei Yoga, beim Musizieren und Tanzen - also bei rhythmischen Tätigkeiten. Genauso kann es auch beim Lesen und Schreiben, beim Programmieren „Flow-Momente“ geben.

Handy einen Tag aus: "Das klingt heutzutage fast experimentell"
Sollte man sich für den Urlaub solche Aktivitäten vornehmen?
Man sollte nicht wieder den Kalender vollknallen mit Action hier, Action dort. Es kann auch mal das Dösen in der Hängematte sein oder der Strandspaziergang. Um einen solchen Zustand zu erreichen, sollte man sich eher fragen: Was kann ich alles sein lassen? Wir haben grundsätzlich eher das Problem, dass unsere Aufmerksamkeit immer in einem Überforderungsmodus ist. Wie wäre es, im Urlaub das Smartphone in den Flugmodus zu stellen und einen Tag ohne zu verbringen? Das klingt heutzutage fast experimentell. Was sich dann aber einstellt, ist ein Gefühl, das viele schon gar nicht mehr kennen: die „lange Weile“. Sie hat große Qualitäten.

Warum?
Wenn die Anzahl der äußeren Reize sinkt, passiert das, was Hirnforscher „Default-Mode-Network“ nennen. Das ist ein Netzwerk im Gehirn, das Ideen generiert und Gedanken hervorbringt, die man sonst nicht hat. Langeweile ist also häufig das Tor zur Muße.
Langeweile hat zu Unrecht einen schlechten Ruf?
Wir leiden heute eher am Gegenteil von Langeweile: zu viele Möglichkeiten, zu viele Reize, zu viele Signale. Ich meine mit Langeweile eine reizarme und unverzweckte Zeit, in der ich mir selbst genug bin.
"Sich treiben lassen, im Flow durch die Zeit surfen"
Zusammengefasst: Ein guter Sommerurlaub hat eine Balance aus Langeweile und zugleich neuen Erlebnissen, damit sich die Ferien in der Erinnerung länger anfühlen.
Genau. Am Ende steht eine banale Frage: Habe ich das Gefühl, dass ich eine gute Zeit hatte? Die Zeitqualität erreicht man in der Regel durch weniger Quantität. Schon die alten Griechen hatten übrigens zwei Götter für die Zeit. Chronos, der Gott für die lineare Zeit, die Chronologie. Das wären heute Termine, Fristen, Deadlines. Daneben gab es Kairos, der Gott des richtigen Augenblicks. Er hat Flügel an den Füßen, vorne einen Haarschopf und hinten eine Glatze. Denn wenn der richtige Augenblick vorbeigeflattert ist, kann man die Gelegenheit nicht mehr beim Schopfe packen. Im Urlaub würde ich dazu raten - wenn wir sonst im Alltag sehr durchgetaktet sind - eher Kairos Raum zu geben. Also sich treiben zu lassen, im Flow durch die Zeit zu surfen, ohne in die Optimierungsfalle zu treten.
Manche legen sich Termine in den Urlaub, weil sie während der Arbeit dafür keine Zeit haben. Zum Beispiel für den Zahnarzt. Schlecht für die Erholung?
Das hat nicht die Qualität einer Urlaubszeit. Ich würde solche Termine wenn, dann eher an den Anfang des Urlaubs legen - damit einem der Termin nicht die ganze Zeit über im Nacken sitzt.
"Ein Drei-Wochen-Urlaub kann auch in Stress ausarten"
Wie lange braucht man Urlaub, um sich wirklich zu erholen?
Das hängt von vielen Faktoren ab und lässt sich schwer pauschal sagen. Manchmal ist ein Kurzurlaub schon erholsam, dagegen kann ein Drei-Wochen-Urlaub auch in Stress ausarten. Ich würde eher auf die Übergänge achten - in den Urlaub hinein und hinaus.

Inwiefern?
Ich rate zu Übergangszeiten. Nicht noch vor dem Urlaub alles reinpressen, den Griffel fallen lassen und dann sofort ins Auto oder den Flieger steigen, um fünf Stunden später am Gardasee zu sein. Besser: einen Übergang einplanen und akzeptieren, dass nicht alles vor dem Urlaub erledigt werden kann. Danach kann wiederum sofort die Welle mit Tausend To-Dos über einen schwappen. Ich kenne Leute, die deswegen ihre Abwesenheitsnotiz einen Tag länger aktiv lassen, um wieder anzukommen, die Fäden wieder in die Hand zu nehmen und nicht sofort in einen Strudel des Reagierens gesaugt zu werden. Wenn wir wie eine Flipper-Kugel von den Ereignissen durch den Tag geschubst werden, ist es ein stressbehaftetes Gefühl.
Kleiner Trick gegen Zeiträuber Smartphone
Was sind aus Ihrer Sicht Zeiträuber, die man vermeiden sollte?
Wenn man auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist, sollte man sich als Erstes den Medienkonsum anschauen. Rein statistisch geht dadurch die meiste Zeit drauf. Man hat dabei aber nicht das Gefühl, etwas Wesentliches geschafft zu haben. Was hilft, alte Gewohnheiten, in dem Fall die Handy-Zeit, unattraktiver zu machen: Ich habe bei meinem Smartphone eingestellt, dass sich der Bildschirm ab 20 Uhr auf schwarz-weiß umstellt, erst morgens ab 10 Uhr wieder auf Farbe. Das Gerät wird dadurch deutlich unattraktiver.