"Wichtige Dokumente gingen einfach unter"

Professor Klaus Kastner (74) über die Bedeutung der Nürnberger Prozesse für die internationale Rechtsprechung, die Probleme bei der Wahrheitssuche – und seine eigenen Erfahrungen
NÜRNBERG Seit 40 Jahren beschäftigt sich der Jurist Klaus Kastner (74) mit den Nürnberger Prozessen, in denen nach dem Krieg die obersten Repräsentanten des Nazi-Regimes zur Verantwortung gezogen wurden. Nicht alles lief so reibungslos, wie es damals dargestellt wurde. Trotzdem wurde nach Ansicht Kastners ein neues Kapitel der Rechtsgeschichte aufgeschlagen, das bis heute seine Wirkung zeigt.
Er freut sich darauf, dass das epochale Ereignis nun auch mit der Dauerausstellung „Memorium Nürnberger Prozesse“, die am Sonntag eröffnet wird, in angemessener Weise gewürdigt wird.
AZ: Die Nürnberger Prozesse, so kann man es auch in Ihren Veröffentlichungen nachlesen, waren ein Meilenstein in der völkerrechtlichen Rechtsprechung. Was war das Besondere daran?
DR. KLAUS KASTNER: Zum ersten Mal in der Geschichte mussten sich Repräsentanten eines Staates für Handlungen strafrechtlich verantworten, die namens eines Regimes und dessen Befehlen und Gesetzen begangen wurden. Im Mittelpunkt des Verfahrens standen dabei die Verbrechen gegen den Frieden, hervorgerufen durch Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs.
Was ein Kriegsverbrechen darstellt, wurde aber schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts, also lange vor der Machtergreifung der Nazis, in der Haager Landkriegsordnung definiert.
Mit einer wesentlichen Einschränkung: Das traditionelle Völkerrecht billigte den Staaten ein Recht zum Krieg ohne weiteres zu. Und die Entscheidungsträger der Nazis waren wirklich die Letzten, die auf den Angriffskrieg als Mittel der Politik verzichtet hätten.
Entgegen den ursprünglichen Planungen ist der Internationale Militärgerichtshof allerdings nur ein einziges Mal, nämlich in Nürnberg, in dieser Besetzung zusammengetreten. Recht nachhaltig sieht die epochale Wende der Rechtsprechung, die damals beschritten worden sein soll, aber nicht aus.
Dass das Gericht nicht mehr zusammentrat, ist mit dem Kalten Krieg zwischen Ost und West zu erklären. Die Spannungen zeichneten sich ja bereits während des laufenden Verfahrens ab. Trotzdem sind die Nürnberger Prozesse bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts von entscheidender Bedeutung gewesen. So hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen bereits im Dezember 1946 die im Prozess angewandten „Nürnberger Prinzipien“ bekräftigt. Später kam es auf dieser Grundlage noch zu zahlreichen internationalen Abkommen. Außerdem spielten die Prinzipien auch noch eine wichtige Rolle bei der Schaffung des Grundgesetzes.
Was haben die Nürnberger Prozesse mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu tun?
Im Artikel 26 steht, dass Handlungen verfassungswidrig sind, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören. Und es ist auch festgelegt, dass solche Handlungen unter Strafe zu stellen sind. Genau das war eine der elementaren Richtlinien bei den Nürnberger Prozessen.
Einen völkerrechtlichen Vertrag über die Durchsetzung der Prinzipien gibt es aber bis heute nicht.
Das ist richtig. Auf der anderen Seite hat der UN-Generalsekretär 1993 in seinem Bericht an den Sicherheitsrat über die Kriegsverbrechen auf dem Balkan betont, dass es sich bei den Nürnberger Prinzipien um geltendes Völkergewohnheitsrecht handelt.
"Der kalte Krieg spielte auch im Prozess eine Rolle"
Zwischen den Nürnberger Prozessen und der Bildung des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag liegen fast 50 Jahre. Warum hat es so lange gedauert?
Der Kalte Krieg der Großmächte USA und Sowjetunion, also die politische Zweiteilung der Welt, hat jeden früheren Versuch im Ansatz torpediert. Die Institutionalisierung des Strafgerichtshofes, die 1993 erfolgte, war erst nach dieser „Eiszeit“ möglich. Dessen ungeachtet besteht kein Zweifel, dass es Den Haag ohne Nürnberg in dieser Form nicht geben würde.
Die moralische Messlatte, die in Nürnberg von den USA angesetzt wurde, war sehr hoch. Jahrzehnte später, in den 70er Jahren, hat Telford Taylor, einer der zentralen Ankläger in den Kriegsverbrecherprozessen, davon gesprochen, dass Amerika die Lektion aus den damaligen Geschehnissen nicht gelernt habe. Was hat er damit gemeint?
Die Amerikaner definierten einen Angriffskrieg grundsätzlich als verbrecherisches Instrument. Telford Taylor hat bei seiner Kritik mit Sicherheit an den Vietnam-Krieg gedacht, der ja nichts anderes war.
Die Kritik Taylors stammt aus dem Jahr 1971. Würde er, wenn er noch leben würde, die Kritik heute, vier Jahrzehnte später, noch einmal wiederholen?
Da bin ich mir angesichts der Tatsache, dass Amerika seitdem in weitere militärische Auseinandersetzungen verwickelt ist, ziemlich sicher. Der Irak wurde zum Beispiel angegriffen, weil man ihn im Besitz biologischer und chemischer Waffen wähnte, was sich später als falsch herausstellte. Anders gesagt: Bei der Anwendung der gleichen moralischen Grundsätze, die von den Amerikanern bei den Nürnberger Prozessen erhoben wurden, würden sie heute schlecht aussehen.
Darf man daraus den Rückschluss ziehen, dass die Prozessführung und die Urteile von Nürnberg zu hart waren?
Das ganz bestimmt nicht. Selbst im ersten Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher gab es drei Freisprüche und einige zeitlich befristete Haftstrafen. Man hat die individuelle Schuld der einzelnen Angeklagten durchaus differenziert gesehen...
...und man hat sich auch hinters Licht führen lassen, wie der Fall Albert Speer beweist, der Hitler näher stand als irgendjemand sonst in der Nazi-Hierarchie.
In diesem speziellen Einzelfall stimme ich vorbehaltlos zu. Wäre damals bekannt gewesen, was wir erst seit wenigen Jahren wissen, nämlich seine aktive Beteiligung an den abscheulichen Verbrechen in Auschwitz, wäre er um die Todesstrafe sicherlich nicht herumgekommen. Er hat es natürlich auch wie kein anderer der Angeklagten verstanden, seine Rolle im Machtgefüge der Nazis und seine Bedeutung als Rüstungsminister herunterzuspielen.
Ein Einzelfall war er aber nicht. Wie wir heute wissen, gibt es unzählige schwer belastete NS-Täter, die nie auf einer Anklagebank Platz nehmen mussten und nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Woran lag das?
Dafür sind unterschiedlichste, sehr komplexe Gründe verantwortlich. Eine wesentliche Rolle hat sicherlich das totalitäre System der Nazis gespielt, von dem nur das, was gewünscht wurde, auch an die Öffentlichkeit drang. Ich will ein Beispiel nennen: Wer in der Bevölkerung hätte schon wissen können, wer Martin Bormann war, der in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde? Er war Kanzleichef des „Führers“, an dem keiner vorbeikam, der Hitler kontaktieren wollte. Abgesehen von dem großen direkten Einfluss, den er auf Hitler hatte, verlieh ihm dies ungeheuere Macht. In der Öffentlichkeit trat er aber nie auf. Oder ein anderes Beispiel: Wer konnte mit dem Namen Ernst Kaltenbrunner etwas anfangen? Er war Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der Machtzentrale der Nazis, aber in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Dessen ungeachtet war er eine der zentralen Personen beim Massenmord an den Juden.
Solche Leute saßen immerhin auf der Anklagebank, andere, wie der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann oder SS-Arzt Josef Mengele, konnten in Südamerika untertauchen. Waren die so gerissen, dass sie den Fahndern entkommen konnten?
Nein, sie sind nur ein Indiz dafür, wie schwer es für die Ermittler war, die Machtstrukturen der Nazis zu durchschauen, um die Bedeutung der jeweiligen Personen richtig einschätzen zu können. Das lag auch an den ungeheueren Mengen von Daten, die zusammengetragen wurden und analysiert werden mussten. Da gingen wichtige Dokumente einfach unter. Ich gebe dabei allerdings zu bedenken, dass die juristisch verwertbare und vollständige Auswertung einer derartigen Material-Flut selbst heutzutage mit dem Einsatz moderner Computertechnologie ein Problem wäre.
Vielleicht hätte man mit dem Prozess, der bereits ein halbes Jahr nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs anfing, länger warten müssen. Dann wäre vielleicht auch ein bessere Auswertung der vorhandenen Dokumente möglich gewesen.
Ich glaube nicht, dass das sinnvoll gewesen wäre und ein paar Monate Vorbereitungszeit viel geändert hätten. Ich gebe ja zu, dass nicht alle, die es verdient gehabt hätten, letztendlich auf der Anklagebank gelandet sind. Aber die, die dort saßen, waren bestimmt nicht die Falschen.
"Beim Angriff der Tiefflieger hatte ich Todesangst"
Sie sind 1936 in Nürnberg geboren. Haben Sie selbst noch Erinnerungen an das Dritte Reich?
Um das System zu erkennen und zu durchschauen, war ich natürlich viel zu jung. Aber ich kann mich noch gut erinnern, als ich auf dem Heimweg in einen Tiefflieger-Angriff der Alliierten geriet. Da hatte ich das erste Mal in meinem Leben richtige Angst. Todesangst.
Haben Ihnen Ihre Eltern damals erklärt, was da passiert?
Mein Vater war Lehrer und überzeugter Katholik. Mit den Nazis konnte er nie etwas anfangen. Das habe ich den Gesprächen zwischen meinen Eltern entnehmen können. Was mir als Ministrant auffiel, war allerdings die Tatsache, dass nach dem Krieg plötzlich wieder so viele Menschen in der Kirche waren. Darunter waren auch die, die der Kirche zuvor gar nicht schnell genug den Rücken kehren konnten.
Interview: Helmut Reister