"Wenn’s im Woid weihrazt" - Spukgeschichten aus dem Bayerischen Wald

Es sind Geschichten von Irrlichtern, Hexen und unfreien Seelen: Karl-Heinz Reimeier macht sich im Bayerischen Wald auf die Suche nach Spukgeschichten. Die AZ hat ihn begleitet.
Hannes Lehner |
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Nur in den finsteren Fichtenwäldern des Bayerischen Waldes können „Weihraz“-Geschichten entstehen – davon ist Karl-Heinz Reimeier überzeugt.
dpa/az Nur in den finsteren Fichtenwäldern des Bayerischen Waldes können „Weihraz“-Geschichten entstehen – davon ist Karl-Heinz Reimeier überzeugt.

In den dunklen Tallagen des Bayerischen Waldes, wo von den Bergrücken herunter finstere Fichtenwälder und von oben ein schwerer Himmel auf das Gemüt der Menschen drücken, nur dort kann er sich diese Geschichten vorstellen, sagt Karl-Heinz Reimeier. Nicht da draußen, im Gäuboden etwa, im freien, weiten, flachen Land oder in der Großstadt. Nein, da kann keine Atmosphäre aufkommen, die so bedrückend ist wie die im Bayerwald, wo der Nebel die Nordhänge den ganzen Tag in Düsterheit hüllt. Genau diese Atmosphäre ist der Nährboden für die Geschichten, die Karl-Heinz Reimeier sammelt. Geschichten aus der Zwischenwelt, von gruseligen Erscheinungen, von Irrlichtern, von Druden, von Seelen der Gestorbenen, die ihre Familienmitglieder im Traum aufsuchen, damit die endlich loslassen und ihnen Befreiung schenken mögen.

Sammlung von Erzählungen rund um die Weiz

Karl-Heinz Reimeier hat diese Geschichten in seinem Buch „Wenn’s weihrazt“ zusammengefasst. Es ist eine Sammlung von Erzählungen rund um die Weiz – und die ist zu einem kleinen Verkaufsschlager für den kleinen Freyunger Lichtland-Verlag geworden. Die Weiz, so steht es im Bayerischen Wörterbuch von Johann Andreas Schmeller, das ist die „Strafe der abgeschiedenen Seelen“. Weizen, so heißt es in dem Werk des Begründers der modernen Mundartforschung aus Tirschenreuth († 1852) weiter, tut es, wenn „arme Seelen umhergehen, überhaupt als Geist, Gespenst erscheinen“. Karl-Heinz Reimeier kann zuhören, deshalb erzählt man ihm gern An diesem trüben Dezembertag geht Karl-Heinz Reimeiers Reise zu einem Weiler namens Reisersberg.

Seit den 1980er-Jahren ist der Grafenauer Heimatpfleger und pensionierte Lehrer im Bayerischen Wald unterwegs und sammelt. Zunächst waren es Volkslieder. Reimeier – rahmenlose Brille, weißes Haar, weißer Bart – hat eine ruhige Art. Er kann zuhören. Er spricht die Sprache der Bayerwäldler, weil er – 1949 war es – hier geboren und aufgewachsen ist. Vielleicht gewinnt er deshalb schnell das Vertrauen der Leute. So holten sie nicht nur alte Notenblätter aus den Schubläden, sondern begannen zu erzählen. Und Reimeier zeichnete auf. „Das sind teilweise Erlebnisse, die sie ein ganzes Leben lang keinem Menschen anvertraut haben, weil sie fürchteten, als Spinner hingestellt zu werden.“

Oft ist der Volkskundler fast so etwas wie eine Art Seelentröster

Manche Gewährsleute, die ihm berichten, umklammern währenddessen fest einen Unterarm. Manche zittern. Manche weinen. Wenn es vorbei ist, merkt Reimeier, wie eine Last von den Leuten abfällt. Erleichterung bricht durch. Oft ist der Volkskundler durch sein Zuhören auch eine Art Seelentröster. So wie heute, bei Familie Lankl in Reisersberg im Kreis Freyung-Grafenau. Die Lankl-Oma hat Kaffee aufgesetzt für den Besuch. Braune Haare, Brille, rot-gelber Seidenschal um den Hals – für über 80 sieht die Lankl-Oma noch rüstig aus. Dabei musste sie in ihrem Leben schon viele Schicksalsschläge hinnehmen. Sie stellt einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch und setzt sich neben Reimeier. An der Wand hängen vier Bilder. Sie zeigen drei ihrer Söhne und einen ihrer Enkel. Alle vier sind sie bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Die Lankl-Oma sieht trotzdem nicht gebrochen aus.

„Weil die Familie zusammenhält“, sagt ihre Tochter Reinhilde Schreiber. Sie steht vor dem Haus der Mutter und deutet auf ein angrenzendes Waldstück, das steil abfällt. „Da, zwischen den Bäumen, sind sie heraufgekommen. Mein Neffe war voller Verletzungen.“ Den Traum, den Reinhilde Schreiber schildert, hatte sie im Jahr 2011, einige Wochen nach dem Unfall, bei dem neben ihrem Neffen zwei weitere Menschen getötet wurden.

„De Gschicht is wirkle woah“ - so hört jede Weihrazerei auf

Nur einen Tag später erschien ihr Neffe einem anderen Verwandten im Traum. Es war dieselbe Szenerie. Jeder sah die gleichen Verletzungen. „Glauben Sie mir“, sagt die Frau mit den feinen Gesichtszügen und den dunklen Haaren, „ich bin ein ganz normaler Mensch, der mit beiden Füßen im Leben steht.“ Damals, nach dem Traum, war für Reinhilde Schreiber klar: „Wir müssen für unseren Neffen beten.“

Von derartigen Träumen hört Reimeier des Öfteren. Eine schlüssige Erklärung für die Geschichten aus der Zwischenwelt gibt es nicht. „Dennoch glauben die Menschen daran“, sagt Reimeier. Oft spielt der Tod dabei eine Rolle. Oft der Teufel. Oft Irrlichter. Oft Hexen. So manche Erscheinung zieht sich wie ein roter Faden durch das Volkssagentum im Bayerwald. Wie die Geschichte von der Drud (siehe unten).

„De Gschicht is wirkle woah.“ So hört jede Weihrazerei auf, sagt Reimeier. Auf der Fahrt zurück nach Grafenau, es ist schon finster, erzählt er von einem seiner demnächst geplanten Besuche. Eine junge Frau habe ihn vor Kurzem angerufen, sagt er. Sie und ihr Mann hätten vor nicht all zu langer Zeit im Bayerischen Wald ein altes Försterhaus gekauft. An immer der gleichen Stelle ihres Bettes erscheint in regelmäßigen Abständen eine Druckstelle. So als ob der Förster gerade noch dagesessen ist ...

 

Eine Weihrazgeschichte: "Die Drud kommt immer in der Nacht"

Berta Sigl aus Thann bei Schöllnach (Kreis Deggendorf) erzählte Karl-Heinz Reimeier die Geschichte von der Drud:

„Es geschah damals, als ich noch ein kleines Mädchen war. Da kann ich mich noch gut daran erinnern, dass mich die Drud gedrückt hat. Wir wohnten noch droben im alten Haus. (...) Das war so in der Zeit, als ich noch bei meinem Vater im Bett liegen durfte. So viele freie Räume haben wir nämlich nicht gehabt. Der Knecht hatte ein Zimmer und die Magd auch. Onkel Sepp wohnte auch noch bei uns in einem eigenen Zimmer. Und wir selbst hatten unser Schlafzimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges.

Eines Morgens in aller Herrgottsfrühe – Mutter und Vater waren schon wach – sprang ich mitten im Schlaf in die Höhe und schrie aus Leibeskräften. Mutter arbeitete schon draußen vor dem Haus, Vater aber hörte mich. Er stürzte aufgeregt ins Schlafzimmer und fragte besorgt: „Dirndl! Was hast du denn? Warum schreist du denn so?“ Ich muss ihn nicht gehört haben und habe weiter geschrien und habe mit dem Schreien überhaupt nicht mehr aufgehört. Endlich – es müssen schrecklich lange Minuten gewesen sein – wachte ich auf. Mittlerweile war auch meine Mutter im Zimmer. „Dirndl! Was war denn los?“ „Da, da, da ist ein schwarzes Weib durch die Türe hereingegangen, direkt auf mich zu!“ „Ach wo!“, meinte meine Mutter besänftigend, „das hast du nur geträumt. Leg dich wieder hin und schlaf noch ein bisschen!“

Ich legte mich zurück in mein Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Meine Mutter saß am Bettrand. Während sie meine Hand hielt, sagte sie: „Wenn du wieder mal im Traum eine schwarze Frau siehst, dann musst du ihr eine schwarze Henne versprechen. Du wirst sehen, sei verschwindet dann sofort wieder.“

Nicht gleich darauf, aber wirklich so ungefähr ein halbes Jahr später, ist mir dasselbe wieder passiert. Genau so wie beim ersten Mal öffnete sich mitten in der Nacht die Schlafzimmertüre und herein trat mit schwerem Schritt und tief gebückt die schwarze Frau. Ich stand sofort aufrecht im Bett und schrie wie am Spieß, bis ich mich an die Worte meiner Mutter erinnerte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und redete die schwarze Frau an: „Du darfst morgen in der Früh wieder kommen. Dann kannst du dir eine schwarze Henne holen !“ Kaum hatte ich das gesagt, war die schwarze Frau, wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden.

Dieses Vorkommnis fand statt in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag. Am selben Sonntag, gleich in aller Frühe, stand die Moserin vor der Haustüre. Sie ist gekommen und hat tatsächlich nach der schwarzen Henne gefragt. Meine Mutter hat sie ihr gerne gegeben. Von diesem Tag an konnte ich wieder ruhig schlafen. Ich war damals sechs oder sieben Jahre alt und habe nichts davon gewusst, dass die alte Moserin als Hexe verschrien war.“


Wer mehr Gruselgeschichten lesen möchte, der findet sie im Buch von Karl-Heinz Reimeier „...wenn’s weihrazt“ (16,80 Euro). Es ist im Lichtland-Verlag erschienen.

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