Von der Vegetarierin zur Jägerin: Jetzt schießt sie sich ihren Braten selbst

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Freitagabend in Grafing unweit von München: Farina Sooth schließt die Haustür und fährt los Richtung Süden. Vier Stunden später erreicht die 35-Jährige die kleine italienische Gemeinde Livigno, mitten in den italienischen Alpen. Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, kontrolliert die Wildtierökologin die Ausrüstung und beginnt ihren langen Aufstieg.
Schritt für Schritt, Höhenmeter um Höhenmeter. An ihrer Seite läuft Astor, ihr Bayerischer Gebirgsschweißhund. Mit ihm zusammen will Sooth die Berglandschaft unweit der Schweiz auskundschaften, um vorbereitet zu sein, wenn die Jagdsaison im September beginnt.
Die gebürtige Sauerländerin arbeitet als Fachreferentin beim Bayerischen Jagdverband (BJV) in Feldkirchen. Unter der Woche lebt die Expertin in Grafing – doch an den Wochenenden zieht es sie zur Jagd in die Lombardei. Sooth ist eine sogenannte Jägetarierin – also Jägerin und Vegetarierin in einem.
Früher Verzicht auf Fleisch
Die Fachreferentin verzichtet daher auf Fleisch aus dem Supermarkt oder vom Metzger – stattdessen erlegt sie es selbst. Doch bis sie aktiv Jägerin wurde, "war es ein langer Weg", sagt sie im Gespräch mit der AZ.
Seit ihrer Kindheit prägt Sooth der Grundsatz: "Wenn ich kein Tier töten mag, möchte ich kein Fleisch essen." Mit neun Jahren sieht das Mädchen damals eine Dokumentation über Massentierhaltung. "Das war furchtbar", erinnert sich Sooth heute. Den Sonntagsbraten lässt das Kind daraufhin erst einmal auf dem Teller liegen. Die Eltern sind zunächst skeptisch – unterstützen sie jedoch in ihrer Entscheidung.

Über viele Jahre bleibt es bei: Fisch ja, Fleisch nein. Mit 19 Jahren zieht die junge Frau zum Studium nach Freiburg. Dort gibt sie auch den Fischkonsum auf und lebt einige Monate vegan – obwohl Sooth während des Forststudiums immer mehr mit der Jagd konfrontiert ist. "Das ist wohl bei jedem anders, aber ich habe sowieso nie viel Fleisch gegessen. Da war es einfach, komplett darauf zu verzichten", so die Jägerin.
Selbst schießen: Der Reiz wird größer
Als sich Sooth beruflich immer mehr mit Wildtieren beschäftigt, wächst der Reiz, selbst jagen zu gehen – auch wenn sie sich das in ihrer Kindheit nie hätte vorstellen können. "Mir ist immer klar gewesen, dass Jagd ein wichtiges Werkzeug im Kasten eines Wildtiermanagers ist", so Sooth. Außerdem faszinieren sie die langen Wanderungen in der Natur und die Tiere in freier Wildbahn.
Vor einigen Jahren begleitet die Expertin dann eine Pirsch in Italien. Sie sieht zum ersten Mal, wie ein Wildtier zu Boden geht. "Natürlich war es traurig", sagt die Fachreferentin. "Doch das erlegte Tier wurde komplett vor Ort verwertet." Eine "natürlich nachwachsende Ressource aus der Region", nennt es Sooth.
Kein Transport, keine Massentierhaltung. "Viele Menschen fragen sich, woher ihr Essen kommt", meint die Jägerin. "Heute weiß ich es: direkt von meinem Hausberg." Die Jagd wird immer mehr zu einer Möglichkeit, "eine Ressource, die bei mir vor Ort ist, nachhaltig zu nutzen".
Der erste Volltreffer
Je mehr Sooth in ihrem Berufsfeld Fuß fasst, desto mehr merkt sie, dass ihr eine entscheidende Fähigkeit fehlt. "Ich wollte in der Lage sein, alle anfallenden Aufgaben übernehmen zu können." Also macht die Wildtierexpertin den deutschen Jagdschein, danach auch den italienischen. Sie geht regelmäßig auf den Schießstand, um den Umgang mit der Waffe zu üben.
Vor dem ersten Schuss standen Wochen der Vorbereitung. Erst vor knapp einem Jahr ist es dann so weit: Sooth greift in Italien selbst zur Waffe. Mit dem Fernglas scannt sie zunächst das Gelände nach Tieren. Manchmal entdeckt die Jägerin welche, die zum Abschuss freigegeben sind; manchmal ist der Hang leer.
Du bist nur noch auf eine Sache konzentriert und verlierst dich komplett darin
Dann kommt der Moment: 500 Meter entfernt entdeckt die Wildtierökologin eine Gams durchs Fernglas. Zu weit weg. Die Jägerin pirscht näher. "Du bist nur noch auf eine Sache konzentriert und verlierst dich komplett darin. Ich will treffen – sonst leidet das Tier." Die Schützin bleibt trotz Aufregung ruhig, atmet aus. Drückt ab.
Sie spürt den Rückstoß, dann herrscht für einen Moment absolute Stille. Die Jägerin beobachtet das Tier durch das Zielfernrohr, es fällt – dann nähert sie sich langsam an. Sooth prüft den Treffer, dokumentiert den Vorgang, füllt Formulare aus. "Die Gams wog ausgenommen neunzehn Kilo", erinnert sie sich.
Die Jagd als Handwerk
Für Farina Sooth ist die Situation eine besondere handwerkliche Herausforderung. "Es ist kein schönes Gefühl, ein Tier zu töten", gibt sie offen zu. "Aber wenn, dann soll es so schnell und so schmerzfrei wie möglich geschehen. Es ist eine Kunst und Herausforderung, es richtigzumachen."
Während der nächsten Tage verarbeitet sie die erlegte Gams und isst seit Jahren zum ersten Mal wieder Fleisch. "Das hat sich für mich nicht mehr falsch angefühlt."
Wie viele Tiere Sooth seit der ersten Gams inzwischen geschossen hat? "Da spricht man nicht drüber", sagt sie. Eine ungeschriebene Regel unter Deutschlands rund 460.000 Jägern – Bescheidenheit statt Angeberei.
Leben und leben lassen
Als Jägetarierin stößt Sooth bei Tierschützern und Veganern nicht selten auf Kritik, manche bezeichnen sie sogar als Mörderin. Doch sie sucht das Gespräch, weicht keiner Diskussion aus – und findet dabei überraschend oft Gemeinsamkeiten: "Am Ende wollen wir alle das Beste für die Natur, auch wenn wir aus ganz unterschiedlichen Denkrichtungen kommen."
Für die Wildtierexpertin geht es um eine bewusste, ausgewogene Ernährung. "Warum esse ich das gerade? Aus Hunger oder aus Gewohnheit?", fragt die Jägerin. Es gehe nicht darum, sich mit Fleisch vollzustopfen, sondern um ein gesundes Maß: "Wenn man zum Beispiel richtig Hunger auf einen Rehburger hat, dann kann man den essen, der Körper fühlt sich dann auch gut. Aber nicht dieses blinde Essen aus Routine."
Für Sooth schließen sich Jagd und Vegetarismus nicht aus. Beides entspringt ihr zufolge derselben Haltung: Respekt vor Tieren.
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