"Viel gebetet" - Jetzt spricht der Gletschermann

Ein bisschen Wasser und viele Gebete: Sechs Tage war der Bayer Manfred W. in einer Gletscherspalte gefangen. Jetzt erzählt der 70-Jährige zum ersten Mal, wie er im ewigen Eis überlebt hat
INNSBRUCK - Er wird seine Geschichte bestimmt noch oft erzählen müssen: Manfred W., der Mann aus dem Gletscher in den Stubaier Alpen. Sechs Tage lang hatte er in 15 Meter Tiefe in einer Spalte des Längentalferners gekauert, bis er entdeckt und gerettet wurde. Jetzt schilderte er in der „Bild am Sonntag” zum ersten Mal öffentlich, wie er das eisige Martyrium überstand.
Der 70-jährige Rentner aus Schmidmühlen ist in den Bergen meist allein unterwegs. „In meinem Alter gibt es nicht mehr viele, die keine Wehwehchen haben und so lang und so weit gehen wollen”, berichtete er der Zeitung. Wie es zu dem Unfall kam, kann er sich nicht erklären. „Ich weiß doch, wie eine Spalte aussieht”, sagt er. „Ich bin ein alter Bergfuchs, aber ich hab’s einfach nicht gesehen.” So stürzte er senkrecht runter.
Dann war’s dunkel. Über ihm hing ein Eisbrocken, dahinter schimmerte etwas Licht. „Schmerzen hatte ich keine, vermutlich wegen des Adrenalins.” Er versuchte, in Richtung des Lichts zu gehen, „und zack, rutsche ich aus und hab’ bis zum Bauch im Wasser gestanden”. Fatal bei der Kälte.
Manfred W. schaffte es, wieder auf seinen kleinen, etwa 30 mal 40 Zentimeter großen Schneevorsprung zurückzukommen. Sein Sitz. Für die nächsten sechs Tage. „Vor mir Ungewissheit, hinter mir ging’s runter und rechts und links nur Wasser und Eis”, erzählt er in der „BamS”.
Er begann, sich auf der kleinen Fläche einzurichten. Legte eine Alu-Decke und Badelatschen drauf – um von unten geschützt zu sein. Seine Stöcke rammte er ins Eis, hängte die wichtigsten Sachen dran. „Außerdem konnte ich mich so abstützten. Ich hatte ja Angst, abzurutschen.” Unter ihm ging’s 20 Meter runter.
Seine Mütze war runtergefallen. „Um mir den Kopf zu wärmen, habe ich mir dann eine Unterhose aufgesetzt”, sagt der zähe Rentner. Er versuchte, Notrufe abzugeben. Kein Empfang. Dann war der Akku leer.
„Ja, Gott, und dann kam der Durst.” Manfred W. sammelte Wasser in seiner Trinkflasche – spärliche 100 Milliliter kamen am Tag zusammen. „Hunger hatte ich nie.” Seinen Proviant – Wurst, Käse, Brot – rührte er in der Gletscher-Gefangenschaft nicht an. Sein Mund sei so trocken gewesen, dass er nichts runterbekommen habe. Nur Schokolade. „Ab und zu ein Stückchen, und dann habe ich mir vorgestellt, es wäre heiße Schokolade.”
Er habe viel gebetet da unten, sagt der Bayer. „Manchmal habe ich ganz ehrlich auch gedacht: So, jetzt springst du in dieses Wasser da runter und dann ist es vorbei.” Die Gedanken an seine Familie hielten ihn ab. Jeden Tag zwischen 10 und 16 Uhr rief er um Hilfe. Den Rest der Zeit atmete er in seine Kleidung und dämmerte vor sich hin. „Ich hatte wahnsinnige Angst, einzuschlafen.” Zu groß die Gefahr, zu fallen.
Dann kam der Tag X. Die Rettung. Nach 146 Stunden. Zwei Bergsteiger hörten ihn rufen. Mit einem Hüft-Bruch, Erfrierungen an den Zehen und Nieren-Problemen kam Manfred W. in die Klinik. Sein Ziel: „Sobald wie möglich möchte ich jetzt heim. Dann werde ich sehr viel bewusster leben, alles genießen.”