Verhungerte Sarah (3): Alle haben sie vergessen

Niemand kümmerte sich um das Mädchen aus Thalmässing. Ihrem Bruder fehlte es an nichts. Mutter Angela R. (26) wurden in Fürth bereits zwei Kinder vom Jugendamt weggenommen.
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Kraftfahrer Patrick R. (29) hält seine Tochter Sarah als Baby im Arm. Auch er griff nicht ein, als sie in den vergangenen Monaten immer dünner wurde, auch er half dem wehrlosen Kind nicht.
privat 3 Kraftfahrer Patrick R. (29) hält seine Tochter Sarah als Baby im Arm. Auch er griff nicht ein, als sie in den vergangenen Monaten immer dünner wurde, auch er half dem wehrlosen Kind nicht.
Die gute Stube von Thalmässing: Am Marktplatz, im Haus rechts, wohnte die Familie R. – direkt über einer Gaststätte.
dpa 3 Die gute Stube von Thalmässing: Am Marktplatz, im Haus rechts, wohnte die Familie R. – direkt über einer Gaststätte.
Mutter Angela R. ist schwer krank, wurde notoperiert. Die früher korpulente Frau hat in kurzer Zeit etwa 70 Kilogramm abgenommen.
privat 3 Mutter Angela R. ist schwer krank, wurde notoperiert. Die früher korpulente Frau hat in kurzer Zeit etwa 70 Kilogramm abgenommen.

Niemand kümmerte sich um das Mädchen aus Thalmässing. Ihrem Bruder fehlte es an nichts. Mutter Angela R. (26) wurden in Fürth bereits zwei Kinder vom Jugendamt weggenommen.

THALMÄSSING Als die Sanitäter Sarah am Samstag aus der Wohnung am Thalmässinger Marktplatz trugen, hielten sie ein Fliegengewicht. Acht Kilogramm wog die Dreijährige – normal wäre das Doppelte. Zwei Tage später starb Sarah. Sie verhungerte unter den Augen ihrer Eltern. Um die Kleine schien sich niemand richtig gekümmert zu haben – ihr ganzes Leben lang.

Es sind verworrene Verhältnisse, in die Sarah als letztes von vier Kindern geboren wurde. Mutter Angela (26) bekam mit 16 das erste Kind, mit 20 das zweite. Damals wohnte sie im Raum Fürth. Um die Kinder kümmerte sie sich wohl ungenügend: Das Jugendamt brachte die beiden bei Pflegefamilien unter.

Die Fachleute hatten nicht den Eindruck, dass Sarah vernachlässigt wird

Angela lernte Patrick R. kennen, der später Sarahs Vater wurde. Doch es gab noch ein Techtelmechtel dazwischen, dessen Resultat Dominik heißt, der heute vier Jahre alt ist. Patrick R. heiratete Angela, nennt Dominik im Internet eines seiner „vier hübschen Kinder“. Als das Rother Jugendamt – informiert von den Fürther Kollegen – sich um die Familie kümmerte, hatte niemand der Fachleute den Eindruck, in Thalmässing würden Dominik und die 2006 geborene Sarah vernachlässigt.

Und dennoch ist es geschehen. Schleichend. Dominiks Großeltern väterlicherseits zum Beispiel hielten Kontakt zum Enkelkind, beschenkten es, machten Ausflüge. Doch Sarah nahmen sie nie mit. Haben sie nicht gesehen, wie die Kleine immer magerer wurde? Justizsprecher Thomas Koch: „Gegen die Großeltern wird nicht ermittelt. Sie sind Zeugen.“ Sie haben Dominik zu sich genommen.

Dominik ging in den Kindergarten. Als die Erzieherinnen Angela R. ansprachen, bald müsse auch Sarah angemeldet werden, redete die Mutter sich heraus. Der Kindergarten ist freiwillig – niemand hakte nach. Es muss auch andere Zeugen gegeben haben, die ebenfalls nicht reagierten. Wie die Nachbarn, die Angela R. nur mit Dominik gesehen haben. Die Erinnerungen an das Mädchen im Kinderwagen verblassten. Sarah soll in einem winzigen Zimmer gelebt haben, wie der Rest der Wohnung vollgemüllt.

Die Kripo ermittelt noch in Thalmässing, Vater Patrick schweigt weiter. Mutter Angela kam kurz vor dem Tod der Tochter ins Krankenhaus. Sie hat offenbar eine schwere Darmerkrankung. Kurz vor der Not-OP wurde ihr Sarahs Tod mitgeteilt. Die korpulente Frau soll in kurzer Zeit bis zu 70 Kilogramm abgenommen haben. Der Gewichtsverlust steht wohl in Zusammenhang mit ihrer Krankheit.

Jugendamtschef Manfred Korth ist niedergeschlagen. Seine Kollegen hatten sich von 2005 bis 2007 intensiv um die Familie gekümmert. Der letzte Kontakt war Ende 2008. „Es gab keine Anzeichen“, seufzt er. „In meinem Job wird man nicht reich, man wird nicht geliebt – aber ich mag ihn, weil mir die Kinder am Herzen liegen. Wenn denen dann trotzdem etwas passiert, dann ist das einfach irre.“ Der Sachbearbeiter, der mit der Familie gearbeitet hat, ist nicht im Amt. „Hier arbeiten keine kaltherzigen Menschen. Er stellt sich dieselben Fragen wie wir. Es geht ihm schlecht. Ich habe ihn heim geschickt.“

Die Akte der Familie hat Korth der Kripo übergeben. Dass die nun durchleuchtet wird, ist ihm recht. „Ich bin froh um die Überprüfung.“ Anlass für Ermittlungen gegen das Jugendamt sieht Justizsprecher Koch nicht. „Es gibt keinen Hinweis auf ein Mitverschulden der Behörde.“ Susanne Will

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