Treue-Softie und Blow-Job-Süchtiger

Die Nürnberger Deutschland-Premiere ist ein wackerer Versuch
von  Dieter Stoll
Szene aus "Pride": Sylvia (Tanja Kuebler) ist im Konflikt-Dreieck erst die betrogene Ehefrau, dann der Schwulen-Kumpel des Pärchens Oliver (Stefan Willi Wang) und Philip (Marco Steeger).
Szene aus "Pride": Sylvia (Tanja Kuebler) ist im Konflikt-Dreieck erst die betrogene Ehefrau, dann der Schwulen-Kumpel des Pärchens Oliver (Stefan Willi Wang) und Philip (Marco Steeger).

NÜRNBERG Doppelt gelebt hält besser: Oliver und Philip sind ein Paar auf Zeit in zwei Existenzen. Erst im moralinsäuerlichen 1958, dann ein halbes Jahrhundert später in der Trendy-Gegenwart des gaywaltigen Mainstream-Hedonismus. Beim ersten Versuch ist ihre sexuelle Neigung im Schattenwurf der gesellschaftlichen Zwangsmoral von Verwirrung und Verdrängung umfangen. 2008 verrutscht der Konflikt in der Grauzone des Lustgewinns, denn jenseits der gefallenen Tabu-Grenzen muss der Bestand einer Beziehung gegen den Lockruf der Freiheit verteidigt werden. Meint der Autor und spielt alles im dramatischen Pendelverkehr zwischen den Zeiten durch. Alexi Kaye Campbell, der 45-jährige Londoner Schauspieler, hat mit seinem ersten Stück „Pride“ daheim Aufsehen erregt und Preise kassiert. Mit der Deutschland-Premiere in den Kammerspielen baut Nürnbergs Schauspiel weiter am Status einer Landebahn für britisches Problemumwälzungs-Theater. Sie holpert noch.


Auf der weitgehend leeren Bühne von Susanne Maier-Staufen nur einschließendes Gitterwerk, das später zur scheppernden Sex-Szene einlädt, und eine lange Bank, wie sie Jürgen Gosch für seine unvergleichlichen Tschechow-Inszenierungen immer wieder bauen ließ. Hier sitzen nun vier abrufbare Zeugen für den Bewusstseinswandel der Gesellschaft in zwei Modellfällen. Sylvia ist im Konflikt-Dreieck erst die betrogene Ehefrau und dann der weibliche Schwulen-Kumpel aus vielen TV-Serien (Tanja Kübler spielt beides resolut), fürs SM-Intermezzo eines Internet-Escorts und ähnlich komische Zwischenspiele als Sex-Therapeut und aufklärerisch schwadronierender Verleger („Ist ,schwul' okay oder ist das wie das N-Wort für die Schwarzen?“) hat Stefan Lorch das richtige Timing. Aber letztlich liegt auf dem jungen Herren-Paar die ganze Last der Aufführung.

Die Dialoge bohren in dünne Bretter


Der verklemmte Ehemann im ersten Teil wird zum schwulen Treue-Softie im zweiten (Marco Steeger achtet sehr auf intakte Klischee-Abwehr, was seine Figur unangreifbar, aber auch mäßig interessant macht), und der schon 1955 in gefährlichen Zeiten unbefangen baggernde Teilzeit-Partner kehrt mit noch mehr Offenheit an Hemd und Moral als Blowjob-Süchtiger zurück: Stefan Willi Wang sucht stärkeren Rollen-Kontrast und rutscht dabei vom lässigen Streber ins Coolness-Abziehbild von „Queer as Folk“. Ein Hinweis darauf, dass die Kommerzialisierung des Stolz-Mehrwerts – es gibt schließlich Hochglanz-Magazine namens „Pride“ und gleichnamige Massen-Events haufenweise – als Hintergrund-Thema schlichtweg verpasst wurde.


Die gespreizten Dialoge, denen Regisseur Maik Priebe zu sehr vertraut, bohren 1958 wie 2008 spiralenförmig in dünne Bretter (von „einer Million drohenden Trommeln im Kopf“ wird geraunt und von manch anderen „Dingen, die von vitaler Bedeutung sind“), während Kleidung und Frisur die Zeitreisen nahezu unangetastet überdauern. Dass dies alles mit unsichtbarer Kulissenschiebung verbunden ist – vor und nach dem Paragraphen 175, mit und ohne Aids-Bedrohung – lässt die Aufführung unbeachtet. Im harten Schnitt der vor- und rückwärts springenden Szenen tauchen immerhin Momente angenehm irritierender Verwirrung auf, wenn der Zuschauer die Echt-Zeit im eigenen Kopf ordnen und seinen Glauben an den sympathischen Optimismus des Autors überprüfen muss. Denn Campbell wedelt mit Merk-Sätzen wie „Wir leben eine Art Evolution“ und beschließt als Herrscher der Story die Versöhnung, die er schreibend nicht darstellen kann. Alles entwickelt sich halt einfach so „zum Guten“, und man kann der freundlich aufgenommenen Inszenierung bestätigen, dass sie es ebenfalls wacker versucht hat.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.