"Soko Tierschutz"-Gründer: "Wenn Tiere sterben, bin ich sehr nachtragend"

Der 41-Jährige Friedrich Mülln ist Gründer des Augsburger Vereins "Soko Tierschutz". Um Missstände aufzudecken, haben er und seine Mitstreiter unter anderem in Versuchslaboren und Schlachthöfen gearbeitet und dort mit verdeckten Kameras gefilmt.
Seit 25 Jahren dokumentiert Mülln Tierversuche und Massentierhaltung
AZ: Herr Mülln, seit mehr als 25 Jahren dokumentieren Sie das Leid der Tiere in Versuchslaboren, Mastanlagen und Schlachthöfen. Wie halten Sie das als Tierfreund und Veganer eigentlich aus?
FRIEDRICH MÜLLN: Wahrscheinlich, weil ich Tierfreund und Veganer bin - und damit Teil der Lösung und nicht des Problems. Der Rest ist vermutlich eine robuste Veranlagung.

Was war das Schlimmste, das Sie bei Ihren Recherchen sehen mussten?
Das ist schwierig. Aber der Lebendrupf von Gänsen war für mich eine absolut einschneidende Erfahrung. Einerseits, weil ich Gänse sehr gerne mag. Und andererseits, weil es einfach grauenhaft ist, was den Tieren angetan wird.
Was geschieht dabei?
Man muss sich das so vorstellen: Man kommt in einen Raum, in dem 30 Leute auf kleinen Schemeln sitzen, die den Gänsen im Akkord Federn und Daunen ausreißen. Es herrscht eine unglaubliche Kakophonie von Schreien und Panik, die Luft ist voller Daunen, und man sieht immer wieder, wie die Haut aufreißt und die Wunden der Tiere mit Flickzeug vernäht werden. Ohne Betäubung. Das ist eine völlig kranke Situation, die sich tief einbrennt. Und dann sind da natürlich die Schlachthöfe.
"Aufdeckungen zu Daunen haben die Industrie ordentlich durchgeschüttelt"
Welchen Horror haben Sie dort beobachtet?
Dass Tiere bei Bewusstsein geschlachtet wurden, weil sie nicht richtig betäubt waren. Wenn man mitansehen muss, wie ein Tier panisch die Augen bewegt, während es aufgeschnitten wird, ist das eigentlich nicht auszuhalten.
Durch die Veröffentlichungen Ihrer "Soko Tierschutz" wurden mehrere Schlachthöfe geschlossen - und mit dem Thema Lebendrupf haben sich sowohl die Industrie als auch die EU beschäftigt.
Ja, die Aufdeckungen zu Daunen haben die Industrie ordentlich durchgeschüttelt. Es gibt zwar immer noch zu viele Daunen-Produkte, die man wirklich nicht braucht - aber mittlerweile sind auch viele sehr gute Alternativen auf dem Markt. Es gibt eigentlich kaum noch Hersteller, die nicht Klamotten oder Schlafsäcke aus synthetischen Hohlfasern anbieten - und irgendwann wird sich das ganz durchsetzen. Die Vorteile, nicht nur für die Tiere, liegen einfach auf der Hand.

Industrielle Tierhaltung ist einer der Haupt-Antreiber der Erderwärmung
Sie sehen in der industriellen Tierhaltung auch mehrere Risiken für den Menschen. Welche?
Sie ist die größte Gefahr für den Menschen überhaupt: Sie ist einer der Haupt-Antreiber der globalen Erwärmung, die unser Leben in den nächsten Jahrzehnten auf den Kopf stellen wird. Hinzukommen Multiresistente Keime, die dazu führen können, dass eine einfache Lungenentzündung oder eine Infektion nach einer Verletzung plötzlich wieder tödlich ist. Früher dachte man, ein bisschen Antibiotikum und alles wird wieder gut. Aber das wird nicht so bleiben.
Warum nicht?
Man kennt einerseits die Klinik-Keime, die sich in Krankenhäusern durch regelmäßige Desinfektion immer besser gegen alles wappnen und irgendwann nahezu unbesiegbar sind. Und dasselbe passiert in den Massentierhaltungen - allerdings in den Körpern der Tiere. Wenn man viele kranke Tiere hat, die man ständig mit Antibiotika behandeln muss, schafft man Superkeime. Diese Superkeime sind dann im Fleisch, auf der Kleidung der Arbeiter, auf den Fahrzeugen. Sie sind in der industrialisierten Landwirtschaft einfach allgegenwärtig - und dadurch nicht nur für den Bauern ein großes Problem, wenn er mal Antibiotika braucht, sondern auch für die Konsumenten von Hühnchen, Pute und Co.
"Ich weiß, dass Pelztiere in China auch gegessen werden"
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie es für denkbar halten, dass auch das Coronavirus ein "Nebenprodukt" der Massentierhaltung sein könnte. Wie kommen Sie darauf?
Klar ist, dass Corona eine Zoonose ist, also eine Krankheit, die vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist - genau wie HIV, Sars, Mers, die Spanische Grippe und die Pest. Bei Corona ging man ja zunächst von Fledermäusen als Überträger aus. Nach Recherchen in China halte ich es jedoch für viel wahrscheinlicher, dass die Pelzindustrie die Quelle dieser Infektion ist. Es ist ja bekannt, dass sich auch in Europa Millionen von Pelztieren mit dem Coronavirus infiziert haben. Und ich weiß, dass Pelztiere in China gegessen werden. Es erscheint mir sehr plausibel, dass sich dieses Virus so beim Menschen breitgemacht hat.
Sie erzählen von "Marderhund-Wienerle". Können Sie das bitte erklären?
Bei den China-Recherchen war ich monatelang undercover in der Pelzindustrie unterwegs, unter anderem in einer Farm für Marderhunde - die kennt man besser als Pelzbommel an Mützen und Jacken in der Münchner Fußgängerzone. Wenn ihr Fell abgezogen ist, wird das Fleisch zu Tierfutter verarbeitet. Normalerweise. Doch als ich fragte, kam ganz stockend, dass man auch Schulwürstchen für Kinder daraus mache. Insofern halte ich diesen Verbreitungsweg, der ja auch von Wissenschaftlern untersucht wird, für durchaus plausibel.
Mülln findet "bio" und "regional" ist nicht die Lösung, sondern ein Trugschluss
Tierschutz- und Lebensmittelskandale, aber auch ein verstärktes Umweltbewusstsein haben dazu geführt, dass immer mehr Verbraucher auf "bio" und "regional" setzen. Das müsste Ihnen als Tierschützer doch gefallen. Tut es aber nicht. Warum nicht?
Als ich angefangen habe mit dieser Arbeit, dachte ich auch, dass "bio" und "regional" eine Lösung sein könnten. Aber 30 Skandale später weiß ich, dass gerade das Prinzip "Bauer um die Ecke" oder "Metzger des Vertrauens" ein totaler Trugschluss ist. Die Leute geben mehr Geld aus und denken, sie bekommen dafür mehr Tierschutz. In Wirklichkeit geht es den Tieren genau so erbärmlich - oder teilweise sogar noch schlimmer.
Wie kommen Sie darauf?
Weil die Arbeiter in den großen Schlachthöfen von Tönnies und Co. im Prinzip keine Zeit haben, ein Tier länger zu misshandeln. Die Tiere sterben dort im Sekundentakt. Aber was wir bei den kleinen Landmetzgereien und -schlachtereien sehen, zum Beispiel in Fürstenfeldbruck, ist, dass die Leute Zeit haben, die Tiere zu quälen.
Sie beziehen sich auf Aufnahmen, die Ihnen ein Whistleblower zugespielt hat.
Ja, und die Szene vom Tierschutz-Beauftragten des Brucker Schlachthofs, der mit einer Starkstrom-Zange, die eigentlich zur Schweine-Betäubung gedacht ist, versucht, ein teures Kobe-Rind in den Tod zu quälen, habe ich nicht vergessen. Deshalb bin ich sehr skeptisch, wenn es um den "Metzger des Vertrauens" geht.
"Es gibt wunderbare pflanzliche Alternativen zu Fleisch!"
Und was spricht gegen "bio"?
Auch da denken die Menschen, dass es ein Ausweg ist. Im Endeffekt ist es für die Tiere nur Ausbeutung in anderer Form - und genauso tödlich. Die Lebensbedingungen sind vielleicht nicht ganz so schlimm wie bei der Massentierhaltung konventioneller Art, aber am Ende geht es mit dem gleichen grauenhaften Tiertransport in denselben grauenhaften Schlachthof. Und häufig ist das Label auch einfach Verbrauchertäuschung. Ich habe bei einem großen Bio-Anbieter in Bayern aufgedeckt, dass seine Sauen in Käfigen gehalten wurden wie in der Massentierhaltung - obwohl das Gegenteil behauptet wurde. Und im Büro lag ein Zettel: "Morgen kommt das ZDF, bitte schön einstreuen und alles vorbereiten".
Was empfehlen Sie Menschen, die - trotz allem - gerne Fleisch essen?
Ich bin selber ein Fleisch-Fuchs - aber eben strikt pflanzlich. Es gibt da wunderbare Alternativen. Einfach mal durchprobieren und sich nicht vom ersten Soja-Würstel, das vielleicht nicht so optimal schmeckt, abschrecken lassen!
"Soko Tierschutz" hat dazu beigetragen, dass Tier-Versuchslabore geschlossen wurden
Und was raten Sie denen, die weiterhin "echtes" Fleisch essen möchten - aber möglichst tiergerecht, und deshalb etwa beim Hofladen einkaufen?
Alles sehr kritisch zu hinterfragen: Darf ich die Schlachtung sehen? Wo findet sie statt? Wurden den Tieren die Schwänze abgeschnitten? Wurden den Tieren die Hoden abgeschnitten? Welche Rasse ist da im Einsatz? Bei vielen Bio-Hühnern ist es zum Beispiel eine Turborasse, deren Großelterngeneration aus Käfigbatterien kommt. So kann man Einiges herausfinden - ist aber vielleicht auch überrascht, wie unfreundlich der nette Metzger plötzlich wird.

Die "Soko Tierschutz" hat wesentlich dazu beigetragen, dass zwei von drei Tier-Versuchslaboren des Unternehmens LPT in Deutschland geschlossen wurden. Wie ist der aktuelle Stand?
Das Großartige an der LPT-Kampagne war, dass noch nie so viele Menschen in Deutschland für Tiere auf die Straße gegangen sind - und natürlich, dass wir 170 Hunde, knapp 50 Katzen sowie über 1.000 Mäuse und Ratten retten konnten. Der aktuelle Stand ist, dass in einem Labor leider wieder Tiere in Versuchen sterben. Ein weiteres soll in eine Art Tierheim oder -klinik umgewandelt werden, was aus unserer Sicht ein Greenwashing-Versuch ist, mit dem der Ruf des Unternehmens wieder hergestellt werden soll. Aber wer meine Arbeit kennt, weiß, dass ich bei Leuten, die Hunde in ihrem Blut sterben lassen, sehr nachtragend bin. Wir werden uns weiter mit dem LPT beschäftigen.
"Für Truthähne und Rinder existiert keine Haltungsverordnung"
Ein weiterer Fall, der nach wie vor aktuell ist: Sie haben 2019 die Missstände in drei Allgäuer Milchviehbetrieben aufgedeckt. In der Folge wurde die bayerische Kontrollbehörde für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen eingerichtet, die die Betriebe seitdem überwacht. Trotzdem ist ein Hof nun erneut in die Kritik geraten, weil er zu viele Tiere hält. Wie kann das sein?
Weil es die deutsche Regierung in den letzten Jahrzehnten verpasst hat, eine Haltungsverordnung für Rinder zu erlassen. Die 11,3 Millionen Rinder in Deutschland leben quasi im rechtsfreien Raum: Die Bauern können so viele von ihnen in ihren Stall stopfen, wie sie wollen. Deshalb stehen in fast allen Betrieben in Bayern zu viele Tiere - ohne eigenen Liegeplatz und ohne einen Fressplatz.
Es gibt Platzvorgaben für Hühner, Kaninchen und Schweine - aber nicht für Rinder?
Genau. Für Rinder und auch für Truthähne gibt es keine Haltungsverordnung, obwohl Deutschland zu den größten Produzenten dieser zwei Tierarten gehört. Ein Meisterstück der Lobby...
Mülln erzählt von den schönsten Momenten eines Tierschützers
Nach all dem Grauen etwas Positives: Was war der schönste Moment in Ihrem Leben als Tierschützer bisher?
Natürlich ist es schön, wenn Schlachthöfe schließen. Aber noch schöner war, als ich einen Transporter voller Mäuse und Ratten aus diesem Tierversuchslabor in Hamburg nach München zum Tierschutzverein und anderen Leuten gebracht habe. Normalerweise dokumentieren wir immer das Leiden und Sterben der Tiere, um etwas zu ändern. Aber dann zu sehen, wie diese kleinen Näschen neugierig aus den Kisten gucken und in ihr neues Zuhause kommen, ohne jemals wieder Angst spüren zu müssen - das war einmalig. Genauso der Beagle, der vorher im Zwinger darauf warten musste, vergiftet zu werden: Wenn man den plötzlich schwanzwedelnd im Arm hat und er einem die Hand ableckt, entschädigt das für ganz viel.
Friedrich Müllns Buch "Soko Tierschutz" ist gerade bei Droemer-Knaur erschienen und kostet 18 Euro.