So überlebte der Gletschermann die Hölle
Ärzte staunen über die Rettung nach sechs Tagen in der Eisspalte und sagen: „Dem geht’s gut“ . Manfred W. (70) will so bald wie möglich wieder wandern – aber nie mehr auf einem Gletscher.
Innsbruck - Der Gletschermann aus den Stubaier Alpen: In seiner Heimat im oberpfälzischen Schmidmühlen galt der Chorsänger und passionierte Gartler als unauffällig. Seit seiner Rettung aus einer Gletscherspalte am Längentalferner, in der er sechs Tage auf einem schmalen Vorsprung in 20 Metern Tiefe ausharrte, ist Manfred W. (70) in seinem Ort berühmt. Und nicht nur dort: Hunderte Journalisten aus aller Welt fragten im Klinikum Innsbruck an, ob er ihnen ein Interview geben würde.
In Schmidmühlen (2500 Einwohner) steht schon jetzt fest, dass Manfred W., der früher als Bezirksleiter eines Energieunternehmens gearbeitet hat, nach seiner Rückkehr eine besondere Ehre zuteil wird. Bürgermeister Peter Braun: „Im November wird er als verdienter Bürger geehrt, der Besonderes geleistet und erlebt hat – und nicht zuletzt auch unseren Ort über die Grenzen hinaus bekannt gemacht hat.“ Schon mit den ersten Bildern von der Rettung war Manfred W. Ortsgespräch: „Ich habe ihn an seiner Jacke erkannt, die trägt er im Winter auch immer“, sagt eine Nachbarin.
„Ich bin sehr froh, dass ihm so weit nichts passiert ist“, sagt Elfriede Altenbuchner, die Wirtin vom „Goldenen Lamm“. Von einem Wunder will der behandelnde Arzt Volker Wenzel vom Uniklinikum Innsbruck nicht sprechen. „Als Wissenschaftler glaube ich nicht an Wunder, sondern nur harte Fakten“, sagt der Mediziner. Aber auch Tage nach der späten Rettung staunen Ärzte über Manfred W. „Dem geht’s gut“, sagt Wenzel. Der 70-Jährige wird aller Voraussicht nach seinen sechstägigen Überlebenskampf in einer Gletscherspalte ohne gravierende und dauerhafte Verletzungen überstehen. „Ich erwarte keine großen Folgeschäden“, sagt Wenzel gestern in der Uniklinik Innsbruck. Die Folgeschäden seien aber noch nicht endgültig abzuschätzen, schränkte der Mediziner ein. Vor allem bei den Erfrierungen an den Füßen müsse noch abgewartet werden.
Gestern Morgen wurde der Patient aus der Intensivstation entlassen, nachdem sich die Nierenfunktion wieder normalisiert hatte. Durch das Trinken des mineralienarmen Gletscherwassers waren die Filter-Organe beeinträchtigt worden. „Er ist für diesen Unfall überraschenderweise wenig verletzt“, sagte Wenzel. „Eine akute Versorgung ist derzeit nicht notwendig.“ Neben den Erfrierungen an den durchnässten Füßen und den Nierenproblemen habe sich der 70-Jährige nur kleinere Knochenverletzungen zugezogen.
Wann Manfred W. in ein Krankenhaus in die Oberpfalz verlegt werden kann, steht nach Angaben des Arztes aber noch nicht fest. Einer der Hauptgründe für den guten Allgemeinzustand des inzwischen weltberühmten Patienten: Dank seiner guten Kleidung hatte Manfred W. eine Körpertemperatur von immer noch 34 Grad. Offenbar hat er in seiner Notsituation alles richtig gemacht. „Entscheidend ist die Körperkerntemperatur dort, wo die lebenswichtigen Organe sind. Arme und Beine werden vorher kalt. Bei 34 Grad hatte der Mann eine milde Unterkühlung“, erklärt Patrick Friederich, Chefarzt der Anaesthesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Bogenhausen. „Sehr kritisch wird’s ab 30 Grad, da beginnen Bewusstseinsstörungen. Bei Bewusstlosigkeit ist es bis zum Kreislaufstillstand nicht mehr weit.“
Friederichs Kollege Wenzel lobt die Nervenstärke des Verunglückten. Manfred W. habe nach seinen eigenen Angaben nur eine einzige Tafel Schokolade bei sich gehabt. Und die teilte es sich akribisch ein: Er aß jeden Tag nur einen Riegel, sagt Wenzel. Dass der Rentner die knappe Woche im Eis überlebte, führt der Arzt vor allem auf die Fitness und die gute Organisation des 70-Jährigen zurück. So habe er nicht nur die Nahrung strikt rationiert, sondern sich so weit wie möglich in Alufolie eingewickelt und in seine eigene Kleidung geatmet, um sich zu wärmen.
Zudem setzte er sich auf seinen Rucksack und rief nur zwischen 10 und 16 Uhr um Hilfe. Also in dem Zeitraum, in dem die Wahrscheinlichkeit gehört zu werden am größten war. Die ganz große Gefahr in dieser scheinbar ausweglosen Lage: Einschlafen ist in solch einer Situation tödlich, weil man weder trinken noch sich bewegen kann. Letztlich hat sein Wille Manfred W. das Leben gerettet. „So eine Situation ist Höchstleistung. Das Kämpfen gegen den Schlaf erfordert enorme Motivation, da spielt mentale Stärke eine große Rolle. Dieser Mann wollte unbedingt weiterleben.“ Bewegung schafft Wärme – „das ist auch der Grund, warum wir bei Kälte zittern“, so der Bogenhausener Chefarzt Friederich. „Damit erzeugen die Muskeln Wärme.“
Das Wichtigste für Manfred W. war, dass er Schmelzwasser getrunken hat. „Selbst Wochen ohne Essen müssen nicht tödlich sein, der Körper geht dann an Fett und Muskeln. Aber sechs Tage ohne Wasser überlebt man nicht. Der Mensch verliert pro Tag rund eineinhalb Liter Wasser.“
Der Gletscher-Mann werde seine Geschichte nicht selbst in der Öffentlichkeit erzählen, kündigte Wenzel an. Sein Patient wolle so bald wie möglich „in sein normales Leben zurückkehren und seine Ruhe haben“. Er werde daher keine Interviews geben und auch kein Buch verfassen. Stattdessen wolle der 70-Jährige bald wieder zu Wanderungen starten, allerdings nur noch in der Oberpfalz. Sein Patient habe ihm im Gespräch versichert: „Ich werde keinen Gletscher mehr besteigen“, sagte Wenzel.
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