„Sind wir nicht alle ein bisschen Nathan der Weise?“

Georg Schmiedleitners Neuinszenierung von Lessings Toleranz-Hymnus am Schauspielhaus Nürnberg ist mutig
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Unfreiwillige Schutzengel-Parodie mit Stefan Willi Wang - eine Szene aus "Nathan der Weise" am Schauspielhaus Nürnberg.
Marion Bührle Unfreiwillige Schutzengel-Parodie mit Stefan Willi Wang - eine Szene aus "Nathan der Weise" am Schauspielhaus Nürnberg.

Nürnberg - Georg Schmiedleitners Neuinszenierung von Lessings Toleranz-Hymnus am Schauspielhaus Nürnberg ist mutig

Als bekannt wurde, dass Georg Schmiedleitner für seine Neuinszenierung von Lessings Toleranz-Hymnus „Nathan der Weise“ die charakterlichen Idealmaße des Titelhelden auf sämtliche Mitwirkenden verteilen wolle, konterten Spötter mit der Variante eines Werbespruchs: „Sind wir nicht alle ein bisschen Nathan?“ Nach der Premiere ist sicher, dass es nicht um Limonade ging – eher um starken Tobak. Das „dramatische Gedicht“ mit dem Stoff, aus dem die Sonntagsreden sind, wirkt wie durchgerüttelt. Was der Dichter im poetisch aufgehellten Märchen erzählte, steht nicht mehr als Klassik-Denkmal auf der Bühne. Seine Philosophie thematisiert die eigene Fragwürdigkeit. Und siehe da: Die Kunst schafft sich nicht ab. „Krieg, Feuer, Zerstörung“ ist der Ausgangspunkt der Leiden. Dazu braucht es keine Jerusalem-Dekoration, sagt der Regisseur, das ist immerwährende Realität. Er löst die Konstruktion aus großer Sprache auf schlichter Handlung ebenso auf wie die Dominanz des einsamen Bescheidwissers. Im Hintergrund der weiten, von Projektionen beflimmerten Szene Stefan Brandtmayrs versammelt sich ein Workshop von Leitkultur-Analysten, die sich des Textes bemächtigen. Mit allen Stimmen gleichzeitig abschmeckend, oft auch mit dem Solo einer Figur, die dann in besonders kräftiger Charakterfarbe herausleuchtet.

Der christlich-kriegerische Tempelherr, der vom muslimischen Sultan begnadigt wurde und die Tochter des jüdischen Kaufmanns aus den Flammen rettet – das ist ein Depot menschlicher Trägerraketen für versöhnliche Botschaften. Die Inszenierung lässt alle Besitz ergreifen von der Aufklärung und zeigt beim Herausschälen der Gegenpositionen, wie weit man davon doch entfernt ist. Anlässe für schauspielerische Punktlandungen, wenn etwa Adeline Schebesch als christliche Erzieherin vom römischen Fundamentalismus mitgerissen wird, Rainer Matschuck als Klosterbruder zwischen den Fronten verzweifelt oder Stefan Willi Wang als Tempelherr die unfreiwillige Schutzengel-Pose mit einem Vollbad in Federn bitterlich parodiert.

Frank Damerius tritt an entscheidenden Stellen als Nathan-Prototyp vor. Bei der Ring-Parabel ist er Kommandant einer Propagandaschlacht. Ohne PR geht eben gar nichts. Der liberale Sultan und seine Schwester (Thomas Nummer und Tanja Kübler im konventionellen Rahmen ihrer Rollen), Nathans christliche Tochter (Grit Paulussen zupft kokett an der E-Gitarre) und der Derwisch (Heimo Essl persifliert Orient-Design im Wickelrock) vereinigen sich immer wieder zum vielstimmigen Nathan-Tableau. Am Ende, wo Lessing den Handlungsknoten zugunsten allseitiger Umarmung zerschlägt, macht Schmiedleitner den Spielverderber. Nicht nur, dass er die Banalität der Kolportage ausstellt, er hält sogar dagegen. Wenn sich plötzlich, statt nach eigener Facon selig zu werden, alle Weltanschauungen gegenseitig niederknallen, ist der Behauptung einer Vision die Erfahrung von Gewalt gegenübergestellt. Man muss, man darf das so nicht akzeptieren aber wer könnte den Wahrheitsgehalt bestreiten. Dass der zum Finale nicht mehr „werktreue“ Regisseur, der in einigen Blindstellen auch mal Erklärungen einfach schuldig bleibt, beim Verbeugen auf seinem großzügig verteilten Kunstblut ausrutschte, mag ein Zeichen höherer Gewalt gewesen sein. Im Diesseits gab es langen Beifall ohne Widerspruch für eine mutige Theater-Tat. Dieter Stoll

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