Rundlauf im Totenhemd
NÜRNBERG - Während der Endlos-Prozession an den Toren der Unterwelt, wo eine übersichtliche Schar von Toten auf offenbar vergeblicher Suche nach dem Seelen-Lieferanteneingang zur Serpentinenmusik eine Ehrenrunde nach der anderen schreitet, schlägt beim Zuschauer der Blitz der Erkenntnis ein. Jetzt weiß er endlich, woher der Begriff „sterbenslangweilig“ kommt.
Im Erlanger Markgrafentheater wagen Fragmente des Nürnberger Opernhaus-Ensembles unter Regie-Anleitung von Intendant Wulf Konold mit dem Studio für Alte Musik der Hochschule und Verstärkungs-Gästen eine mythologistische Zeitreise mit Händel – und stehen im Hemd da.
Vor Beginn der Hochzeits-Party wackeln auf der Bühne die Wände, aber das ist nicht Polterabend sondern Erdbeben. Zitat eines historischen Vorgangs, denn diese in London eher seltene Naturgewalt hat vor 258 Jahren die Uraufführung von Georg Friedrich Händels „Alceste oder Die Wahl des Herkules“ beherzt verhindert und das Textbuch verschwinden lassen. Für die späte szenische Premiere musste nun rund um ein Stündchen Musik die Handlung rekonstruiert oder frisch fabuliert werden. Sie beginnt mit einer gegenwartsnahen Plapper-Gesellschaft, lässt Götter in Theatermasken dazustoßen, setzt alle unter Valium und windet sich durch Staubfänger-Standards der antiquarischen Spartengeschichte. Die Todesfall-Rückrufaktion des Originals (Frau gestorben, Geliebter untröstlich, Götter kompromissbereit, Wiederbelebung problematisch) ist mit einer neu erfundenen Erbschaftsstory gekoppelt, die man leider nicht kapiert.
Musiker in frisierter Antike
Zwischen altenglisch nebulösen Gesangstexten (5000 Euro für die Anschaffung eines Übertitel-Geräts war den Erlangern zu teuer), straff gebundener Dichtersprache und Talk-Gesäusel stochern die Musiker in frisierter Antike.
Dirigent Andreas Paetzold hat die penibel spielenden, in gleichmäßig pulsierendem Wellenschlag dahinschaukelnden Musiker im festen Griff. Ein sauberer Händel-Verwaltungsakt, bei dem Esprit und Dynamik nicht vorgesehen sind. Daran können die Sänger wenig ändern, obwohl Melanie Hirsch ihre Koloraturen hübsch hinzirkelt, der Altus Thomas Diestler in der entscheidenden Arie zulegt, Kurt Schober munter aus Bariton-Ecken poltert, und Sibrand Basa im singenden Rundlauf durch die Logen bei Atem bleibt. Das Gabrieli-Vokalensemble, Konolds überregionaler Gesangsverein, umkränzt alles wie ein Doppel-Quartett auf Stehempfang.
Der von Nürnberg längst verschlafene Händel-Aufbruch, der den Oldie als messianische Pop-Verheißung und Rohstofflieferant für Phantasie entdeckte, ist ein weiteres Mal meterweit vorbeigeschrammt. Und die neue Gluck-Fixierung verstellt den Blick aufs Konkurrenz-Genie sowieso. Da ist die Premiere halt ein Lehrstück verpasster Chancen, oder – noch besser – Leerstelle für den auf Konold folgenden Nürnberger Intendanten.
D. Stoll
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