Puzzeln gegen die Lügen der Vergangenheit
In Zirndorf werden seit 15 Jahren zerrissene Stasi-Unterlagen per Hand rekonstruiert
ZIRNDORF „Mit jedem Blatt wird ein Stück Vergangenheit, die die Stasi bewusst verdunkeln wollte, zurück ans Licht gebracht.“ Das sagte die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler jetzt in Zirndorf bei Fürth. Denn dort arbeitet seit 15 Jahren die „Projektgruppe Manuelle Rekonstruktion“ daran, zerrissene Unterlagen des DDR-Geheimdienstes wieder zusammenzufügen.
Beim Start am 24. Februar 1995 waren damit über 40 Mitarbeiter beschäftigt. Inzwischen sind es nur noch sechs. „Wir hätten gerne wieder mehr Mitarbeiter“, sagte Birthler. Neuanstellungen lässt der allgemeine Sparzwang aber nicht zu. Die Aufgabe der Projektgruppe sei von unschätzbarem Wert. Denn ohne sie würden sich noch heute viele hinter ihren Lügen über die eigene Vergangenheit verstecken, betonte Birthler.
Ernst Schrödinger puzzelt seit neun Jahren. Die Dokumente, an denen der 54-Jährige gerade arbeitet, sind verhältnismäßig grob in bis zu zehn Mal 20 Zentimeter große Stücke gerissen. Er entnimmt sie einem Karton, sortiert sie vor, heftet zusammengehörende Unterlagen aneinander und klebt sie dann mit einem speziellen Klebeband zusammen. „Geduld braucht man viel“, sagt er nüchtern. Doch er hat sich freiwillig für diese Arbeit gemeldet. „Weil ich sie gut finde.“
Stasi-Mitarbeiter hatten nach der Wende einen großen Teil ihrer Akten zerrissen. Sie sollten vernichtet werden. Dass es nicht in allen Fällen soweit kam, ist dem Einsatz mutiger Bürger zu verdanken, die am 4. und 5. Dezember 1989 zunächst die Stasi-Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen stürmten und im Januar 1990 auch die Stasi-Zentrale in Berlin. Dadurch konnten schätzungsweise 45 Millionen DINA4-Seiten Material in über 16000 Säcken sichergestellt werden. Dokumente, die bis zu 30 Mal zerrissen wurden und sowohl handschriftlich als auch auf Maschine getippt worden waren.
Von diesen über 16.000 Säcken hat die Projektgruppe seit Aufnahme ihrer Tätigkeit gerade Mal 400 Säcke abgearbeitet. Das sind 700.000 Seiten, die sich zu etwa 7000 Dokumenten zusammensetzen ließen, wie Marianne Birthler erklärt.
Ohne neue Technik würden die Arbeit Hunderte von Jahren dauern
Weitere 400 Säcke sollen nun maschinell zusammengefügt werden. Eine entsprechende Maschine wird gerade vom Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (PKI) in Berlin entwickelt und in einem Pilotprojekt mit 6,3 Millionen Euro von der Bundesregierung gefördert. Bis Mitte 2011 soll die Entwicklung abgeschlossen sein. Erst dann könne mit dem Einscannen der Papierschnipsel begonnen werden, erklärt der Projektleiter „Virtuelle Rekonstruktion“, Joachim Häußler. Es wird erwartet, dass der komplette Inhalt aller Säcke binnen fünf Jahren abgearbeitet sein könnte. Per Hand würde es dagegen wohl noch Hunderte von Jahren dauern.
„Ich weiß nicht, ob wir das noch erleben werden“, scherzt Birthler. Gleichwohl hofft sie, dass so viele Dokumente wie möglich rekonstruiert werden können. Schließlich hat die Nachfrage nach Archivmaterial in den letzten fünf Jahren deutlich zugenommen. Außerdem finde sie es schön, wenn noch möglichst viele Menschen die Möglichkeit hätten, Akten über sich einzusehen.
„Auch wenn so mancher Inhalt bitter ist, waren bisher alle Betroffenen froh darüber, Klarheit zu bekommen“, sagt Birthler.Brigitte Caspary
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