Psychiater über Hygiene: "Viele Menschen werden Zwänge entwickeln"

AZ-Interview mit Ulrich Voderholzer: Der Professor ist Chefarzt der Psychosomatischen Klinik & Psychotheraphie an der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.
AZ: Herr Professor, wie oft waschen Sie sich denn die Hände?
ULRICH VODERHOLZER: Aktuell wasche ich mir die Hände öfters, ich schätze bis zu zehn Mal am Tag. Das ist medizinisch und von der Hygiene her ja auch sinnvoll und gefordert. Das Reinigen und Desinfizieren der Hände beim Betreten der Klinik oder wenn man nach Hause kommt sowie vor dem Essen, das alles wird empfohlen und ist sinnvoll.
Wie ist das bei Menschen mit Zwangsstörungen?
Es gibt große Unterschiede bezüglich der Art der Zwänge. Menschen, die Kontaminationsängste haben, also die Angst, dass durch das Berühren von Gegenständen oder Menschen etwas Negatives auf sie übergeht, waschen sich sehr viel häufiger die Hände. Meist ist das dann ein komplexer ritualisierter Vorgang.
Was bedeutet das?
Ein Extrembeispiel ist ein Mann gewesen, der hat sich vier Stunden lang die Hände gewaschen. Solche Menschen nehmen beispielsweise zehn Mal die Seife, man wäscht jeden einzelnen Finger, jeden Fingernagel und wiederholt das immer wieder.

Was gehört noch dazu, welche Rolle spielt die Umgebung?
Zu so einer Störung gehört vor allem ein massives Vermeidungsverhalten, also möglichst gar nichts zu berühren, gar nicht raus zu gehen, niemanden in die Wohnung zu lassen.
Was ja momentan geboten ist.
In der Coronasituation ist das Besondere, dass solche Dinge empfohlen werden. Ein Mensch mit einer Zwangsstörung würde aber beispielsweise die komplette Kleidung wechseln, wenn er zurück in die Wohnung kommt. Er würde Ängste entwickeln, wenn er mit der Hand etwas berührt. Das sind übertriebene Verhaltensweisen.
"Die Pandemie hat bereits vorhandene Ängste verstärkt"
Könnten aber die Hygieneempfehlungen in der Krise nicht dazu führen, dass die Menschen sich bestätigt fühlen und ihr Verhalten nicht mehr als unsinnig ansehen?
Das entspricht nicht unserer Erfahrung. Es ist immer noch ein großer Unterschied zwischen komplexen Zwangshandlungen, die diese Menschen ausüben, und normalen Hygieneempfehlungen. Diese Abweichung von der Norm ist den allermeisten Zwangserkrankten weiterhin sehr bewusst. Wenn das Robert-Koch-Institut empfiehlt, sich die Hände zu waschen, wenn man heimkommt, bedeutet das ja nicht, dass man das ritualisiert eine halbe Stunde lang machen soll. Interessanterweise berichten einige Patienten mit Waschzwängen, sich aktuell weniger für die Zwänge zu schämen und sich mehr verstanden zu fühlen. Möglicherweise führt die Pandemie dazu, dass Waschzwänge auch für die Allgemeinbevölkerung besser nachvollziehbar werden.
Wie geht es also den Menschen, die an solchen Störungen leiden jetzt in der Krise?
Wir haben für eine Studie knapp 500 Menschen befragt, die an einer Zwangsstörung leiden. Auch für mich überraschenderweise hat ein hoher Anteil von 70 Prozent berichtet, dass es ihnen schlechter geht, weil die Corona-Pandemie die bereits vorhandenen Ängste verstärkt - vor allem bei den Menschen mit Waschzwängen.
Wie viele Menschen leiden denn überhaupt an Waschzwängen?
Ungefähr ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung sind von Zwangsstörungen betroffen, wobei die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte, weil viele nicht in Behandlung gehen und es aus Scham verheimlichen. 40 Prozent haben Waschzwänge, schätzt man. Zu sagen, dass 500 000 Menschen in Deutschland an Waschzwängen leiden, ist sicher nicht übertrieben.
Betreffen Waschzwänge öfter Frauen oder Männer, junge oder ältere Menschen?
Es betrifft alle: ärmere wie reichere, gebildete wie ungebildetere Leute. Es ist bei Männern und Frauen weitgehend gleich häufig vertreten mit einer leichten Tendenz zu mehr Frauen. Auch Kinder und Jugendliche sind betroffen, es fängt oft früh an und ist oft eine langdauernde Erkrankung. Die meisten Menschen, die wir therapieren, sind zwischen 14 und 50 Jahren. Manchmal werden die Zwangsstörungen mit zunehmendem Alter etwas leichter.
"So ein Zwangsverhalten birgt eine vermeintliche Sicherheit"
Welche Disposition begünstigt, dass man an so einer Zwangsstörung erkrankt?
Man weiß, dass eher ängstliche und unsichere Menschen stärker zu Zwangsstörungen neigen als andere. Man weiß auch, dass Zwänge durch belastende Lebensumstände ausgelöst werden können, etwa eine Trennung der Eltern, Übergriffe oder Umzüge können Auslöser für das Verhalten sein. Auch andere negative Erlebnisse in der Kindheit, Situationen, die mit starkem Ängsten oder Ekel verbunden waren, können die Entwicklung von Waschzwängen begünstigen.
Was steckt dahinter?
So ein Zwangsverhalten birgt eine vermeintliche Sicherheit. Man will wieder Kontrolle über die Dinge bekommen, man will damit ein Gefühl der Sicherheit erlangen. Nach Ausführung der Zwangsrituale geht es einem kurzzeitig besser, auch wenn den Betroffenen bewusst ist, dass das Verhalten völlig übertrieben ist. Es leiden auch oft Kriegsveteranen nach traumatischen Erlebnissen an solchen Zwangsstörungen.
"Man muss klar zwischen normalem und übertriebenem Zwangsverhalten unterscheiden"
Begünstigt das in der Corona-Pandemie vorherrschende Hygienethema so eine Erkrankung?
Es ist davon auszugehen. Aber man kann es im Moment noch nicht sagen. Es gibt Daten der Krankenkasse KKH, die bundesweit mehr Menschen mit Waschzwängen festgestellt hat. Das sind schon erste Hinweise. Ich gehe davon aus, dass es viele Menschen gibt, die erstmalig in der Coronazeit solche Zwänge entwickeln. Als sich vor 30 bis 40 Jahren der HI-Virus weltweit verbreitete, entwickelten viele Menschen eine Aids-Phobie mit übertriebenem Zwangsverhalten. Wobei man sagen muss, dass man klar zwischen normalem und übertriebenem Zwangsverhalten unterscheiden muss. Wer sich vor dem Essen die Hände wäscht, ist normal. Sich nach jedem Toilettengang eine Stunde duschen zu müssen, ist eine Zwangsstörung. Ich hatte eine Patientin, die so Angst vor Urinspritzern hatte, dass sie nur noch einmal am Tag auf die Toilette ging und danach Stunden duschen musste. Eine andere hat ihren Mund mit Desinfektionsmittel ausgespült.
Das ist freilich extrem. Doch auf welche Anzeichen sollte man bei Angehörigen achten, die darauf hindeuten könnten, dass derjenige so eine Störung entwickelt?
Wenn solche Ängste und Zwänge den Alltag stark beeinträchtigen, wenn sie an der Arbeit hindern und der Betroffene gedanklich gar nicht mehr davon loskommt, ist das immer ein deutliches Zeichen. Wichtig ist die Normenkontrolle, also die Frage, was normal ist. Die meisten, die ein Zwangsverhalten entwickeln, merken und wissen schon selbst, dass es übertrieben ist, was sie da tun. Wenn jemand selbst motiviert ist, sich Hilfe zu holen, fragt er andere um ihre Meinung. Er fragt, ob andere denken, dass sein Verhalten normal oder nötig ist und etwa den RKI-Empfehlungen entspricht. Das ist ein guter Abgleich der Norm.
"Viele gehen viel zu spät in Behandlung"
Angenommen, jemand nimmt diese Empfehlungen einfach sehr ernst, wie geht man damit am besten um?
Wenn das Händewaschen so exzessiv wird, dass die Haut, die ja auch eine wichtige Schutzfunktion hat, geschädigt oder gar wund wird, verkehrt sich das Risiko ins Gegenteil. Wenn man so ein übertriebenes Verhalten beobachtet, ist es meistens am besten, es anzusprechen und Hilfe anzubieten. Wenn man nichts sagt, dann hilft das den Betroffenen auch nicht. Das ist bei vielem so, sei es Alkoholmissbrauch oder starkes Abmagern. Aber die meisten Menschen, die Zwänge haben, machen das meist heimlich, sodass man es oft nicht mitbekommt. Viele gehen viel zu spät in Behandlung, im Schnitt erst nach fünf bis sechs Jahren, weil sie sich schämen und es ihnen peinlich ist.
Wie hilft man Betroffenen?
Menschen, die Hilfe brauchen, weil der Leidensdruck so groß ist oder sie der Zwang so massiv einschränkt und quält, brauchen natürlich eine Behandlung. Standard wäre ambulante Verhaltenstherapie. Da muss ich aber leider sagen, dass es sehr schwer für Menschen mit Zwangsstörungen ist, einen ambulanten Therapieplatz zu finden. Im Moment scheint es besonders schwierig, rasch einen Therapieplatz zu bekommen, wie uns viele Patienten berichten. Wenn eine ambulante Therapie nicht ausreicht, oder nicht verfügbar ist, ist eine stationäre Therapie in einer Spezialklinik für Zwangsstörungen zu empfehlen. Besonders wirksam sind intensive Expositionsbehandlungen, bei der die Betroffenen schrittweise lernen, ihre Ängste zu bewältigen und ihr Vermeidungsverhalten aufgeben.
Warum ist es so schwierig, einen ambulanten Therapieplatz zu finden?
Es gibt große Unterschiede je nach Region. Besonders in manchen ländlichen Regionen kann es bis zu einem Jahr dauern, bis eine Therapie beginnt und selbst in einer vergleichsweise gut versorgten Region muss mit Wartezeiten von Monaten gerechnet werden, bis eine Therapie beginnen kann. Hinzu kommt, dass Menschen mit Zwangsstörungen nicht gerne angenommen werden, weil Zwänge oft recht hartnäckig sind. Und im Moment ist der Zugang zu Therapie ohnehin erschwert, das hat auch unsere Studie gezeigt. Wir haben eine therapeutische Not momentan. Im Lockdown mussten ja Kliniken Aufnahmestopps verhängen. Im Moment haben aber manche Angst, dort in Therapie zu gehen - wegen des Virus und der Kontaktbeschränkungen. Das Vermeidungsverhalten von Menschen mit Zwangsstörungen hat sich noch verstärkt, viele verlassen vor lauter Angst ihre Wohnung gar nicht mehr. Es gibt begründeten Anlass zur Sorge, dass nach dem Ende der Pandemie ein Ansturm auf Therapieplätze ausbricht.
"Vermeidungsverhalten nimmt durch die Krise noch zu"
Was könnte die Situation entschärfen?
Andere Länder sind bei der Videotherapie schon viel weiter. Da gibt es leider immer noch Vorurteile, es wird auch leider von den Kassen immer noch erschwert. Wichtig sind auch gute sachliche Informationen zur Selbsthilfe, etwa von der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen (DGZ), die seit 25 Jahren Betroffene und Angehörige mit Zwangsstörungen berät.
Viele Informationen und Hilfsangebote sowie Diagnostikfragen gibt es unter www.zwaenge.de.