Nur 36 Minuten Pflege am Tag für diesen alten Mann...
...und keinen einzigen Cent aus der Pflegekasse – Helmut Noetzel (82) ist dement und zuckerkrank.
NÜRNBERG Kurz vor Weihnachten änderte sich das Leben von Helmut Noetzel (82) dramatisch: Der alte Mann stürzte schwer, musste ins Krankenhaus. Wenige Tage später meldeten sich die Ärzte bei seiner Tochter Sandra Noack (35): Auf keinen Fall dürfe ihr Vater allein nach Hause entlassen werden, er sei desorientiert und brauche ständige Betreuung. Tatsächlich stellte sich heraus: Helmut Noetzel ist an Demenz erkrankt – vermutlich ist er damals gestürzt, weil der Zuckerkranke seine Insulinspritzen vergessen hatte. Seit einigen Wochen lebt er nun im Nürnberger „Pflegenest“, einem Heim, das sich auf die Betreuung dementer Menschen spezialisiert hat. Das Problem: Es ist kein Geld da, das Heim zu bezahlen.
Jemand muss ständig darauf achten, dass er isst und trinkt
Denn obwohl Helmut Noetzel den ganzen Tag betreut werden muss, obwohl jemand darauf achten muss, dass der Diabetiker sein lebenswichtiges Insulin bekommt, dass er isst, dass er trinkt, dass er nicht einfach auf die Straße rennt – und obwohl der alte Mann vor allem nachts immer wieder das Wasser nicht halten kann, hat das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) befunden: 36 Minuten Pflege am Tag reichen für Helmut Noetzel.
„Gebraucht“ hätte er 45 Minuten – denn dann wäre er in die Pflegestufe 1 gekommen. Was bedeutete, dass die Pflegekasse, die Barmer, jeden Monat 1023 Euro überwiesen hätte. Zusammen mit den 600 Euro Rente hätte das zwar nicht gereicht, die 2000 Euro Kosten fürs Heim zu tragen, doch es hätte weitergeholfen. Denn Tochter Sandra Noack kann finanziell nicht helfen, sie ist zurzeit arbeitslos und geschiedene Mutter eines siebenjährigen Buben.
Das MDK-Gutachten, das der AZ vorliegt, schlüsselt minutengenau auf, wie viel Zeit man der Pflege eines gebrechlichen alten Mannes widmen darf: 9 Minuten täglich, um ihn am ganzen Körper zu waschen, 2 Minuten, um seine Zähne zu putzen und 1 Minute (!), um den alten Mann zu rasieren. 14 Minuten in der Woche darf es dauern, Helmut Noetzel zu baden – macht pro Tag 2 Minuten Badezeit. Insgesamt werden der Körperpflege 18 Minuten zugerechnet. Die dürften allein dafür draufgehen, den 82-Jährigen zu waschen und neu anzuziehen, wenn er erneut ins Bett gemacht hat.
Weiter geht’s im Pflege-Galopp: Um die täglichen sechs Mahlzeiten an den Mann zu bringen, werden 3 Minuten veranschlagt – 30 Sekunden pro Mahlzeit!
Kommen noch 5 Minuten fürs Ankleiden, 3 Minuten fürs abendliche Ausziehen, 6 Minuten, um Helmut Noetzel beim Gehen zu unterstützen. 1 Minute wird für den Punkt „Stehen (Transfer)“ verbucht – was auch immer das sein mag. Macht unter dem Strich für die Mobilität einen Zeitbedarf von 15 Minuten. 18 Minuten Körperpflege, 3 Minuten Ernährung, 15 Minuten Mobilität – macht 36 Minuten, die magische Zahl, die den Zustand von Helmut Noetzel als nicht schlimm genug für die Pflegekasse beschreibt.
Auch auf AZ-Anfrage lehnte der MDK es ab, das Gutachten zu kommentieren.
Für die Pflegekasse gibt es keinen Ermessens-Spielraum
Tochter Sandra Noack ist geschockt. Sie hatte fest damit gerechnet, dass die Pflegeversicherung ihr hilft, die Kosten zu tragen. Sie hat Widerspruch eingelegt. Dennoch, die Heimkosten laufen weiter, und irgendwann wird auch das „Pflegenest“ seine Rechnung präsentieren.
Vier bis fünf Wochen dauere es in der Regel, bis über einen Widerspruch entschieden wird, so Christian Wingarde, Chef der Leistungsabteilung der Barmer in München: „Selten dauert es über zwei Monate.“ Bis dahin muss Sandra Noack irgendwie über die Runden kommen. Denn, so Wingarde, „vorstrecken können wir kein Geld“. In der Regel kommt es zu einer Zweitbegutachtung durch den MDK, selten wird einfach nach Aktenlage entschieden.
Das MDK-Gutachten ist für die Pflegekasse bindend. Barmer-Experte Wingarde: „Für uns als Pflegekasse gibt es da überhaupt keinen Ermessens-Spielraum.“ Er macht Sandra Noack kaum Hoffnung: „Neun Minuten zu wenig, das ist derart eindeutig, dass so gut wie keine Chance besteht. Es sei denn, man könnte über ein Pflege-Tagebuch nachweisen, dass der Zeitaufwand größer ist.“ Er selbst sieht durchaus kritisch, dass sich der Sachverhalt „Demenz“ im gängigen System der Pflege-Minuten nur unzureichend niederschlägt: „Das hat der Gesetzgeber seinerzeit nicht ausreichend bedacht. Da wird sich etwas ändern müssen.“
Für Sandra Noack ist das kein Trost: „Wenn ich die Pflegestufe nicht bekomme, muss ich für meinen Vater eine Wohnung mieten. Dann kommt der Pflegedienst einmal am Tag. Mein Vater wäre lange Zeit sich selbst überlassen. Das wäre unmöglich.“
Unmöglich, aber traurige Realität.
W. Vennemann
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