Notrettung im internationalen Vergleich: "Richtig reibungslos klappt es nirgendwo"

In Deutschland retten die Sanitäter oft nicht, sondern spielen nur Krankentransport. Wen es zwickt, der blockiert die Notaufnahme. Arztpraxen, in die die minderschweren Fälle gelenkt werden müssten, gibt es auch immer weniger, zumal auf dem Land oder überhaupt in Kliniknähe, zumal nach 20 Uhr. Interessen von Kliniken, niedergelassenen Ärzten, Rettungsdienst, Krankenkassen, Bund, Ländern, Gemeinden und Parteien prallen aufeinander, organisiert im föderalen System mit "zersplitterten Zuständigkeiten", wie es eine Studie der Bertelsmann-Stiftung einmal ausdrückte. Und jede Seite versuche, ihre Partikularinteressen zu erhalten. "Nicht zielführend" sei das, sogar "eher kontraproduktiv". Man fragt sich manchmal, warum überhaupt etwas funktioniert in der deutschen Notfallversorgung.
Aber ginge es denn eigentlich anders? Gibt es irgendwo Beispiele oder gar Vorbilder, an denen man sich ausrichten könnte? Gibt es irgendwo gar das perfekt designte Notfallsystem?
Notfallversorgung läuft nirgendwo ganz glatt ab
"So richtig reibungslos klappt es eigentlich nirgendwo in Europa", sagt der Leiter einer bayerischen Notaufnahme im Gespräch mit der AZ. Es liegt in der Natur der Sache: Ein Notfall ist eine Besonderheit – ein System ist aber auf den Normalfall ausgelegt, den konventionell kranken Patienten, bei dem es nicht so einen großen Unterschied ausmacht, ob er nun heute oder morgen zum Arzt gehe.
Passieren gerade zufällig viele Unfälle gleichzeitig, gerät jedes System irgendwann an seine Grenzen. Oder wenn im Winter bei einer Grippewelle Arztpraxen überlastet sind und die Menschen in die Notaufnahme kommen. "Die ist immer gerne ein Auffangnetz für Fehlorganisation im System", sagt der Leiter der Notaufnahme.
Und dass sich mal ein Nicht-Nofall-Patient ins Notfallsystem verirrt, der eigentlich anderswo genauso behandelt werden könnte, lässt sich ebenso kaum verhindern. "In allen betrachteten Ländern besteht die Tendenz, die Notfallpatienten an Krankenhäuser zu leiten", heißt es in einem Bericht des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, der einen Vergleich zwischen verschiedenen europäischen Notfallsystemen anstellt. Im Zweifel auf Nummer sicher gehen – ein einleuchtendes Verhalten, gerade wenn es um Leben und Tod geht.
Breiter Konsens: Notfallrettung funktioniert häufig ähnlich
Auffällig ist im internationalen Vergleich auch, wie ähnlich die System sind. Ob Österreich, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Dänemark oder Schweden: Sehr viele Länder setzen auf ein dreigliedriges System aus niedergelassenen Ärzten (für ambulante Versorgung in Fällen ohne hohes Risiko), Rettungsdienst (zur Stabilisierung und zum Transport von Patienten mit hohem Risiko) und Notaufnahmen (für risikoreiche und mitunter aufwendig zu diagnostizierende Fälle). Kernelement ist meistens eine initiale Kontaktaufnahme mit einer Rettungsleitstelle per Telefon. Es herrscht ein breiter Konsens, dass Versorgung im Notfall auf diesen Säulen am besten zu leisten ist.

Der Unterschied liegt im Detail: In Deutschland haben Notfallsanitäter eine dreijährige Ausbildung, in Dänemark dauert diese fünf Jahre. Frankreich, Österreich oder die Schweiz unterhalten ein ähnliches Notarzt-System wie Deutschland, das heißt, sind bei einer Rettung besondere medizinische Maßnahmen nötig, muss eigens ein Notarzt angefordert werden. Andere Länder, etwa die USA, setzen in der Notfallrettung außerhalb der Kliniken keine Ärzte ein, sondern sogenannte Paramedics. Diese verfügen dann meist über mehr Kompetenzen wie deutsche Rettungsassistenten oder Notfallsanitäter und dürfen zum Beispiel Patienten intubieren.
Unterschiede im Detail, etwa bei der Rettungsleitstelle
Auch die Leitstellen bieten teilweise unterschiedliche Dienste an: In Österreich und Dänemark handelt es sich hierbei eher um Gesundheitsleitstellen, die nicht nur Einsätze disponieren, sondern auch medizinische beraten – bis hin zur Anleitung bei der Wiederbelebung. In Frankreich ist in den Telefonzentralen immer ein Arzt anwesend, der entscheidet, wie mit einem eingegangenen Notruf verfahren wird und der mitunter gleich telefonisch medizinische Maßnahmen initiieren kann.
Für einen großen Vorteil des französischen Systems halten viele Notfallmediziner auch, dass es "aus einem Guss" organisiert ist. Soll heißen: eben nicht mit zersplitterten Kompetenzen. Die Notfallrettung ist in allen Départments einheitlich über Leitstellen organisiert.
In Dänemark kann, anders als in Deutschland, niemand einfach so in eine Notaufnahme gehen – zuvor muss zwingend die Leitstelle kontaktiert werden. Diese entscheidet dann, wohin der Patient muss. "Im Grunde die perfektionierte Art dessen, was in Deutschland auf freiwilliger Basis passiert", beschreibt ein Notfallmediziner das im Gespräch.
Gemeindekrankenschwester, um Notfälle zu vermeiden
In den Niederlanden muss, wer seinen Hausarzt umgeht und direkt zum Notfallzentrum kommt, einen höheren Eigenanteil (meist im dreistelligen Bereich) zahlen als ein überwiesener Patient. Erforderlich ist hier natürlich eine transparente Dokumentation, sodass jede Stelle einsehen kann, was andere bereits geleistet haben. Eine elektronische Patientenakte existiert in Dänemark bereits seit 2000, seit 2013 sind die Daten allen Gesundheitseinrichtungen zugänglich.
Einen indirekten Ansatzpunkt für die Notfallversorgung stellen auch sogenannte Community Health Nurses dar, zu deutsch etwa Gemeindekrankenpfleger. Die Nurses sollen (und dürfen) keine Notfälle behandeln, sondern sollen vielmehr dazu beitragen, dass erst gar keine entstehen. Schweden verfolgt das Konzept und bietet auf diese Weise Gesundheitsberatung an, klärt über Behandlungsangebote auf und lotst Patienten zu den richtigen Stellen. Ziel ist es, die generelle Gesundheitskompetenz zu stärken.
Oliver Herber, Professor für Community Health Nursing an der Universität Witten, sieht darin die Möglichkeit, Versorgungslücken "mit pflegerischen, aber auch vorbeugenden und gesundheitsfördernden Angeboten" zu schließen. Darum hat auch das Bundesgesundheitsministerium die Bedeutung erkannt und möchte in Deutschland 1000 entsprechende Stellen aufbauen, "Gesundheitskiosk" genannt, vor allem in ärztlich schlechter versorgten Gebieten. Vereinzelt gibt es solche Kioske bereits, etwa im nordrhein-westfälischen Essen.