Nazars Leben zwischen Tür und Angel

Als Christ verfolgt: Der Iraker kauerte sieben Tage im doppelten Boden eines Lkw. Der Junge vermisst seine Familie – und will doch in Nürnberg bleiben
von  Susanne Will
Buchstäblich zwischen Tür und Angel ist Nazars Leben derzeit in Nürnberg. Trotz negativen Bescheids hofft er, doch in der Stadt bleiben zu dürfen, wo er weiterhin zur Schule gehen kann.
Buchstäblich zwischen Tür und Angel ist Nazars Leben derzeit in Nürnberg. Trotz negativen Bescheids hofft er, doch in der Stadt bleiben zu dürfen, wo er weiterhin zur Schule gehen kann. © Berny Meyer

 

NÜRNBERG Nazar ist einer von 120 Jugendlichen, die in der Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder e.V. (siehe AZ-Printausgabe am 19./20.3) in Nürnberg ein Stück Normalität gefunden haben. Der Junge aus dem Irak flüchtete im September 2009. Er war damals 16 Jahre alt. Sieben Tage kauerte er im doppelten Boden eines Lkw. In überraschend gutem Deutsch sagt der heute 18-Jährige: „Ich hatte solche Angst.“ Die Angst ist noch nicht gewichen. Momentan plagt den schmalen Jungen die Vorstellung, dass er zurück in das Land muss, aus dem er geflüchtet ist. Nazar versteht viel von Motoren. Mit seinem Vater arbeitete er, um die Familie und seine fünf Geschwister durchzubringen. „Doch man wollte nicht, dass wir arbeiten – wir würden den anderen die Jobs wegnehmen, hieß es.“

Der Grund: Nazars Familie sind Christen – und die werden im Irak oft verfolgt. Der Druck auf die Familie ging so weit, dass „einer von denen“ Nazar überfiel und ihm mit einer Säge in den Oberschenkel schnitt. So sollte er arbeitsunfähig gemacht werden. Das war der Zeitpunkt für Nazars Vater, seinen Jungen in Sicherheit zu bringen. 11.000 Euro wollten die Schlepper für die Flucht nach Deutschland. „Bis zur Türkei bin ich legal gekommen“, sagt er. Dann erwartete ihn eine Tortur: Eingepfercht in einen Zwischenboden fuhr ihn ein Lkw eine Woche nach Deutschland. Bei München spuckte der Lkw Nazar und vier andere Flüchtlinge aus.

Verunsichert, verstört, traumatisiert, ängstlich

Nazar war auf sich allein gestellt. Über ein Heim in München kam er zur Gemeinschaftsunterkunft nach Zirndorf, ins Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ein halbes Jahr lang war er im Sechs-Bett-Zimmer, „mit Männern, die sich geprügelt haben, es gab viel Blut“, berichtet er. Zur Schule konnte der schlaue Kerl nur eine Stunde am Tag gehen. „Und ich wollte doch nur lernen, lernen, lernen“. Dann endlich kam er in die Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder. Die zwölf Plätze dort sind ständig belegt. Nach einer Zeit erhielt er eine eigene Wohnung. Die zahlt das Jugendamt, Nazar erhält 197 Euro im Monat. Davon gehen Strom, Fahrkarten und Telefongeld für die Anrufe in den Irak ab. Er besucht die Schule, macht Praktika und wird von Christine Böhme (55), Leiterin der Wohngemeinschaft, betreut. Er nennt sie Mama.

Das Schlimmste ist: „die Einsamkeit. Zuhause lebten alle zusammen, Opas, Omas, Onkel, Tanten. Hier bin ich allein.“ Nazar ist verunsichert, verstört, traumatisiert und ängstlich. Weil er nicht weiß, was die Zukunft bringt. „Ich habe einen Anwalt“, sagt er, finanziert wird der über Spenden. Er setzt große Hoffnungen auf den Mann. Denn er hat einen negativen Bescheid bekommen: Mit 18 müsste er Deutschland verlassen. Er hat Einspruch eingelegt. „Ich möchte hier bleiben, meine Schule beenden, arbeiten und meine Familie unterstützen.“ Der höfliche Junge räumt das Geschirr weg, das während des Gesprächs auf dem Tisch stand. „Und noch etwas“, sagt er, es ist ihm sehr wichtig: „Ich habe auch noch nie in meinem Leben etwas gestohlen oder mit der Polizei zu tun gehabt.“ 

Für die Flüchtlingskinder werden Vormundschaften gesucht. Am 14. April, 19 Uhr, findet im Verein (Fürther Straße 86) ein Info-Abend statt.

 

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