Nach dem Eisbär-Drama: Jetzt spricht Nürnbergs Zoo-Boss!
Tierschützer greifen ihn nach dem Tod eines Eisbär-Zwillings an. Doch Tiergarten-Chef Dag Encke bleibt ruhig.
NÜRNBERG Trauer und Hoffnung liegen zurzeit ganz nah beieinander im Nürnberger Tiergarten. Das eine der beiden Nürnberger Eisbären-Zwillinge wurde vorgestern von Mutter Vera aufgefressen. Das andere, knapp drei Wochen alte Bärchen hat die kritische Phase noch nicht überstanden. Die endet erst, wenn der kleine Polar-Petz seine Bruthöhle verlässt.
Das erinnert an die dramatischen Ereignisse vor einem Jahr. Damals waren die beiden Eisbären Vilma und Vera schwanger. Vilma fraß ihre beiden Babys auf. Vera dagegen schien zunächst eine gute Mutter zu sein. Doch dann schleppte sie Flocke aus ihrer Bruthöhle. Der Tiergarten nahm Vera daraufhin das Eisbärenkind weg – und zog es von Hand auf. Das möchte der Tiergarten diesmal vermeiden, wie Tiergarten-Direktor Dag Encke der AZ im Interview erklärt.
AZ: Herr Encke, wie geht es dem lebenden Eisbär-Zwilling?
DAG ENCKE: Es geht ihm gut, so weit wir das sehen können. Zum Glück kümmert sich Vera noch sehr vorbildlich um das Kleine.
Und wie hoch sind seine Überlebenschancen?
Schwer zu sagen. Wir versuchen gerade einzuschätzen, ob sich Veras Verhalten noch im biologisch normalen Bereich befindet. Also, dass die Tiere sozusagen immer ein Tier in Reserve produzieren, da sie davon ausgehen, dass eines nicht überlebt. Oder ob es so ist, dass Vera in ihrem Aufzuchtverhalten noch zu unerfahren oder zu lasch ist.
Wenn Sie feststellen, dass Vera doch keine gute Mutter ist, werden Sie dann das Tier – wie Flocke – per Hand aufziehen?
Unsere Linie ist: Wir lassen die Eisbär-Mama das zu Ende bringen. Das letzte Jahr hat Vera bewiesen, dass sie bis zu der Sekunde, in der sie Flocke aus der Höhle brachte, eine perfekte Mutter war. Und selbst dann wusste sie, was sie wollte: nämlich eine andere, sichere Bruthöhle. Das Kleine jetzt herauszuholen hieße, die Aufzucht abzubrechen. Und dann würden wir nie erfahren, ob es Vera kann. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass Vera wieder etwas Unvorhergesehenes tut. Dann weiß ich auch nicht, was wir tun werden.
Der Tierschutzbund-Geschäftsführer Thomas Schröder kritisierte, dass der „lockere Umgang“, den man in Nürnberg mit den Tieren pflegt, nicht länger zumutbar sei.
Das ist schlichtweg nur eine Behauptung. Wenn man Kritik äußert, dann sollte das Fachkritik sein. Man unterstellt damit ja den Zoobetreibern, dass ihnen die Tiere scheißegal sind. Aber wir widmen unser ganzes Leben den Tieren.
Der Tierschützer fordert weiter: „Wenn man sich schon für die Nachzucht entscheidet, dann darf man die Tiere auf keinen Fall sich selbst überlassen.“ Was antworten Sie darauf?
Das bedarf keiner Antwort. Das ist Schwachsinn, absoluter biologischer Schwachsinn. Die Bären sind doch keine Haustiere. Dann muss er sagen, was das heißt, „sich nicht selbst überlassen“? Will er dann die Handaufzucht? Die haben die doch auch kritisiert.
Knut, Flocke, Wilbär – was machen die Zoos nun mit den Eisbären? Auswildern?
Nein. Denn wenn der schwindende Lebensraum der Grund für den Rückgang der Population ist, dann würde man mit der Auswilderung nur die Tiere verheizen. Allerdings, wenn man Eisbären in eine schwache Population etwa auf das Festland auswildern würde, müssten sie sich erst eine Generation lang in einem Reservat an die Wildbahn gewöhnen. Außerdem müssen die gefährlichen Raubtiere von den Menschen entwöhnt werden, damit sie die natürliche Scheu vor den Zweibeinern wiedererlangen.
Gibt es dann bald zu viele Eisbären in den Zoos?
Nein. Die Eisbärenpopulation baut sich gerade erst nachhaltig auf. Nachhaltigkeit heißt, wir kalkulieren auf 100 Jahre. Wir wollen dann eine Population haben, die dem Genpool und Verhaltensmuster einer Wildpopulation entspricht. Das können wir bei den Eisbären schaffen. Wobei Eisbären immer noch zu den kompliziertesten Tieren gehören. Deswegen ist die Aufzuchtrate immer noch zu niedrig.
Wer bestimmt denn, ab wann Flocke Sex hat?
Das Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP). Das EEP basiert aber auf Freiwilligkeit, man hält sich an Empfehlungen. Wenn die sagen, dass Flocke nächstes Jahr nach Kopenhagen muss, wir als Zoo wollen das aber aus triftigen Gründen nicht, kann uns das EEP nicht zwingen. Aber wir müssen dann eine vernünftige Lösung für die Gesamtpopulation finden. Das ist bei hochentwickelten Säugetieren oft nicht einfach.
Sind handaufgezogene Eisbären wie Flocke dann gute Eltern?
Ja, aber die haben generell eine geringere Aufzuchtrate. Das hat viele Ursachen: Die lassen sich eventuell nur schwer sozialisieren, lassen sich nicht decken, wollen selbst nicht aufziehen – sie können aber auch wunderbare Mütter oder Väter werden.
Interview: Martin Mai
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