Müll-Mägen und Dichter-Mahnen
Nürnberg - Fränkische Kulturrückblende: Als der Burggraben aus allen Nähten platzte, Kämpfe um den violetten Penis entbrannten und Hermann Glaser 70 wurde
Bewegt sie sich etwa doch, die fränkische Kultur-Szene? In der AZ-Serie „10 Jahre danach“ wagen wir allmonatlich den Blick zurück mit Verbindung nach vorn. War da was - und was wurde draus? Heute: August 1998.
Rekordsingen: Beim 23. Bardentreffen schieben sich 120000 Besucher zu 267 Künstlern aus 21 Ländern, damals noch mit der Hauptbühne im Burggraben; heuer feierte man mit 250 000 Menschen wieder Überfüllungs-Bestnoten. Damals mittendrin Zigeunermusik aus aller Welt, etwa Fanfare Ciocarlia, längst zum Exportschlager geadelt. Auch mit dabei: Das Kabarett-Trio Les Derhos’n, dessen Drittel Michaila Kühnemann in diesem Jahr mit gosch & klimpa auf der Lorenzer Bühne stand. Von der damaligen Diskussion, ob das Bardentreffen noch „Fest der Liedermacher“ heißen dürfe, ist nichts geblieben — dafür wird nun die beängstigende Überfüllung zum Thema.
Dichter dran: In Erlangen wartet das auf drei Tage geschrumpfte 18. Poetenfest mit greiser Prominenz auf: Großlyrikerin Hilde Domin beeindruckt Gäste und Kritik mit Charme und Festivalausdauer, Andrzej Szczypiorski („Die schöne Frau Seidenmann“) mit klaren Stellungsnahmen zum Holocaust-Mahnmal. Szczypiorski starb zwei Jahre später, Domin 2006. Biographisch können die diesjährigen Poeten-Stars kaum mithalten, ob literarisch, wird sich weisen. Ganz sicher aber werden Büchner-Preisträger Josef Winkler, Marlene Streeruwitz und Filmemacher Volker Schlöndorff Ende August für Aufsehen sorgen.
Weltgeist in Franken: Hermann Glaser wird 70, und die Abendzeitung würdigt den bedeutenden Nürnberger Kulturpolitiker und Denker mit einer Artikelserie. Auch mit bald 80 bleibt der längstjährige Schul- und Kulturreferent streitbar und produktiv, lieferte beim „SchattenOrt“-Symposium vor wenigen Wochen die brauchbarsten Denk-Anstöße und hat in seinem Hegel-Essay noch einmal die Heimatstadt gewürdigt. Dennoch bleibt er bei seiner Nürnberg-These: „Im Kleinen groß und im Großen kleinlich.“
Belebung des Sommerloches: Die Missfits, Jeff Beck, die singende Föhnwelle Dieter Thomas Kuhn u u.a füllen den Serenadenhof mit Auftritten und Anzeichen eines Nürnberger Sommerlochs. Inzwischen hat der Veranstalter solche Ambitionen eingestellt und das Programm ausgedünnt.
Schöne Schein-Kämpfe: Jason Rhoades, ironischer (und inzwischen jung verstorbener) Enkel der Fluxus-Bewegung, ruft mit den sieben Müll-Mägen in seiner anarchistischen Werkschau „The Purple Penis and the Venus" nicht den erwarteten Skandal hervor, dafür eine Stellvertreter–Debatte, die Oskar Koller und Werner Knaupp in Kontrahenten-Rollen zwingen. Kunsthallen-Chefin Eva Meyer-Hermann, heute Kuratorin im Van Abbemuseum Eindhoven, kann steigende Besucherzahlen verbuchen. Die könnten ihrer Nachfolgerin Ellen Seifermann, neuerdings auch für die Sparte bei Fränkischer Galerie und K4 zuständig, durchaus recht sein. Zur Zeit hat sie gute künstlerische Argumente: Die Gruppenschau „Das Gelände“ mit Jonathan Meese, Jürgen Teller, Winfried Baumann und Claus Föttinger.
Kulturstadt-Sucht: 1998 schielt Markus Söder, damals JU-Chef und Vorsitzender des CSU-Kreisverbandes Nürnberg-West, nach einer größeren Kragenweite für seine Heimatstadt und setzt sich für die Bewerbung 2010 als Kulturhauptstadt Europas ein. Zehn Jahre später hat er längst das Interesse daran verloren. Dabei hätte er jetzt den direkten Draht nach Brüssel, als bayerischer Europa-Minister...
Schaufenster-Neugier: Gründungsdirektor Lucius Grisebach will die Nürnberger nicht nur für die Baustelle seines Neuen Museums, sondern auch für dessen Inhalte begeistern. Grundsatzgespräche mit Persönlichkeiten aus „Medien, Politik, Wirtschaft, Jugendkultur etc.“ sollen die Neugier ankurbeln. Seine Befürchtungen trafen ungebremst ein. Man interessiert sich mehr für die Schaufenster-Hülle als für den Inhalt, wie die Besucherzahlen verraten. Grisebach-Nachfolgerin Angelika Nollert bleibt bislang auf popularitätsfernem Kurs.
Neu im Kino: Mit Tom Tykwers „Lola rennt“ fasst der deutsche Film wieder Tritt, Jack Lemmon und Walter Matthau geben erneut ein seltsames Paar ab, die „Akte X“ startet in ihr Leinwand-Leben. Gerade ist die Fortsetzung angelaufen. Georg Kasch
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