Mit Pillen geht alles besser

Zum 300. Geburtstag einer fränkischen Markgräfin: „Der Wilhelmine-Code“ als grelles wie originelles Musiktheater in Erlangen
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Die wirbelnde Markgräfin und ihr denklustiger Gast Voltaire: Georgia Stahl und Nicholas Reinke schaukeln im Erlanger Musiktheater-Projekt „Der Wilhelmine-Code“.
Mario Heinritz Die wirbelnde Markgräfin und ihr denklustiger Gast Voltaire: Georgia Stahl und Nicholas Reinke schaukeln im Erlanger Musiktheater-Projekt „Der Wilhelmine-Code“.

ERLANGEN - Zum 300. Geburtstag einer fränkischen Markgräfin: „Der Wilhelmine-Code“ als grelles wie originelles Musiktheater in Erlangen

Wer mit Blick auf die 300-Jahr-Feier der fränkischen Markgräfin Wilhelmine ins Erlanger Theater geht, wo Intendantin Sabina Dhein für ihr letztes Amtsjahr vor dem Wechsel nach Hamburg ein frei über den Sparten schwingendes Musiktheaterstück namens „Der Wilhelmine-Code“ in Auftrag gab, muss flexibel sein. Zwar wird er noch im Garderoben-Foyer stilgerecht vom Trommelwirbel preußischer Offiziere empfangen, aber drinnen auf der Bühne warten sprechsingende Darsteller in einer Wohn-Wabe aus Küche und Nasszelle, als ob Franz Xaver Kroetz doch noch mal in den sozialen Wohnungsbau hineingedichtet hätte.

„Irgendwas ist ja immer“

Erst nach der Prekariats-Variante im zweiten Teil der Aufführung hängen die Figuren am Netz der schnörkeligen Historie – lassen sich aber davon nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Folgerichtig endet der skizzierte Befreiungsakt einer emanzipatorischen Provinz-Herrscherin, die sich mit Universitätsbau und Opernhäusern auf Kosten stöhnender Steuerzahler ihre eigenen Denkmäler schuf, im Ungefähren. „Irgendwas ist ja immer“, sind die letzten Worte der eigensinnigen Dame mit Hang zu Kultur allgemein und einem Flusspferd insbesondere.

Musiker als Flusspferdeflüsterer

Dickhäutig wie der exotische Schoßhund-Ersatz der resoluten Gräfin – die Musiker, ganz Flusspferdeflüsterer, tragen deren Schädel als Kopfbedeckung – ist ihr Umgang mit der Realität, die der Selbst-Inszenierung gelegentlich im Weg steht. Steuererhöhung empfiehlt sie dem wutschnaubenden Minister immer wieder, wenn das Geld für die Projekte knapp wird. Und dann wirft sie Aufmunterungs-Pillen ein („Nimm eine von den Blauen“, lautet das gesungene Rezept), damit die Depression nicht vom Volk ins Schloss überschwappt.

Ein Bauchladen voll „Denkkultur"

Dort herrscht eigentlich ihr untreuer Ehemann, der „ein Cembalo nicht vom Rasenmäher unterscheiden kann“, aber machtlos ist gegen die Capricen der abhebenden Gemahlin, die „wie aus einem Gemälde geschnitten und ins Gelände gestellt“ wirkt. Da kann Voltaire helfen, Philosoph-Superstar nach Lloyd-Webber-Maß, wenn er einen Bauchladen voll „Denkkultur“ verteilt. Noch mehr Glanz verbreitet nur Maria Theresia, wie sie mit hoheitlicher Gehhilfe und ausgefahrenem Sopran antritt – ein integrierter roter Teppich rollt unterm Senioren-Wägelchen mit Lenkstangen-Hupe. Da kann die Gräfin nur mithalten, wenn sie zur Wachtraumbeschreibung die Erinnerung an Cleopatra beschwört – zumal Fürstin Gloria als Modellfall noch nicht zur Verfügung stand.

Wilhelmine als Modellfall wandelnder Selbstverwirklichung

Constantin von Castenstein (Text: Melodram & Satire) und Michael Emanuel Bauer (Musik: Crossover, wohin das Ohr auch schweift) haben nicht im Traum daran gedacht, die wepsige Wilhelmine treuherzig nach ihren eigenhändig manipulierten Memoiren zu schildern. Sie nehmen sie als Modellfall wandelnder Selbstverwirklichung, lassen sich inspirieren von Fakten und Vermutungen, sausen in Wort und Klang durch Jahrhunderte. Die angezapften Quellen, oft vorschnell in die Biegung der Travestie gelenkt, sprudeln ins Sammelbecken der Motive, wo der Begriff „Collage“ und die beschworene Patenschaft von Mauricio Kagel nie ganz falsch sein kann.

Ambition im Spektakel

Lilli-Hannah Hoepner inszenierte mit Sängerin Cornelia Melián (die zur Arien-Ausstellung gern in eine Vitrine steigt) und Georgia Stahl als trotzköpfige Egotrip-Gräfin ihr munteres Ensemble auf Reibungshitze zwischen Barock und Pop. Und kaschiert mit Witzchen die Ambition, die letztlich im Spektakel steckt. Zum großen Jubel reichte es am Ende nicht, aber der Beifall war so respektabel wie das ganze, unterhaltsame Projekt. Dieter Stoll

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