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„Bilder aus der Dunkelheit“: Fotos des blinden Pianisten und Komponisten Heinrich Hartl als faszinierendes und verblüffendes Projekt von Herbert Liedel im Museum Industriekultur.
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Emotionaler Moment als Auslöser: Der blinde Komponist Heinrich Hartl hat auch Konzertatmosphäre in der Musikhochschule fotografiert – in impressionistischer Variation.
Heinrich Hartl Emotionaler Moment als Auslöser: Der blinde Komponist Heinrich Hartl hat auch Konzertatmosphäre in der Musikhochschule fotografiert – in impressionistischer Variation.

NÜRNBERG - „Bilder aus der Dunkelheit“: Fotos des blinden Pianisten und Komponisten Heinrich Hartl als faszinierendes und verblüffendes Projekt von Herbert Liedel im Museum Industriekultur.

Ein Sonnenstrahl fällt durchs gotische Kirchenfenster der Klosterkirche Gnadenberg und überstrahlt die Szene – das war der Moment, in dem Heinrich Hartl auslöste. Herkömmliche Foto-Gesetze unterläuft das atmosphärische Bild, das mit stürzenden Linien und Unschärfe eher als Reverenz an dänische „Dogma“-Filmerei durchgeht. Kein Wunder: Hartl ist von Geburt an blind. Den Komponisten und Pianisten (55) hatte der Nürnberger Fotograf Herbert Liedel (60) ermuntert, Lieblingsorte abzulichten. Absurde Idee, verblüffende Wirkung. Wie die bislang einzigartige Aussteilung „Bilder aus der Dunkelheit“ im Museum Industriekultur belegt.

Bei einem Künstler wie Heinrich Hartl, den man auch problemlos als Zuschauer von Tanztheater erleben kann, muss es eigentlich nicht verwundern, dass er auch bei diesem Projekt „Witterung“ aufnahm. Liedel machte sich Gedanken „über die eigene Wahrnehmung, dass sie nicht objektiv ist, sondern subjektiv“. Wie also schaut eine „Welt ohne Augen“ aus? Zwei Jahre lang durchstreiften Liedel und Hartl vertrautes Terrain, sommers wie winters. „Ich habe mich konzentriert auf die Atmosphäre des Ortes und entschied: Jetzt ist es schön, jetzt löse ich aus!“ Impressionistische Momentaufnahmen voller malerischer Dichtheit entstanden, verwischt, schieflagig, verträumt. Im Gehen und Stehen ließ er die Spiegelreflexkamera mit Weitwinkel klicken. Richtete sie auf Baumwipfel (weil die Nadeln so gut rochen), Sandsteinecken, die er vorher ertastet hatte, oder ließ sich von der Akustik verleiten. Ob das nun eine Brücke unterm Alten Kanal (10 Sekunden Hall!) oder die Empore in der Buchschwabacher Kirche war. Moritzberg, Katharinenruine, Teufelshöhle und Fränkische Schweiz zählen zu Hartls Favoriten. Wie bei den Sehenden. Kein Wunder, sagt er: „Diese Orte sind nicht umsonst Klischee-Orte. Sie haben viele idyllische Punkte.“

Hartl sieht mit Ohren, Nase und Haut. „Licht ist für mich auf jeden Fall Wärme. Es kann auch unbarmherzig sein. Mittags. Abends ist Neonlicht mitunter unangenehm. Dunkel ist das Nichts oder Kälte. Stille kann Licht oder auch Dunkelheit sein.“ Bei Menschen spürt er Aura, Großstadtbilder drohen gerne zu klumpen.

Im Museum Industriekultur werden einem mit Leuchtbildern und Großformaten, die Liedel auswählte, die Augen für ein „multisensuelles Erlebnis“ geöffnet. Und der Besucher kann an „taktilen Reliefs“ seinen Tastsinn schärfen für Bildmotive wie Rockenbrunn und das Fürerschloss. Die Fingerspitze ist nicht das einzige Gefühl, das hier angesprochen wird. Andreas Radlmaier

Museum Industriekultur (Äußere Sulzbacher Str. 62): bis 18. Oktober, Di-Fr 9-17 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr

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