Ludwig Hartmann: In München muss die Tunnel-Brille abgesetzt werden

München - AZ-Interview mit Ludwig Hartmann: Der 44-jährige Kommunikationsdesigner aus Landsberg am Lech sitzt seit 2008 im Bayerischen Landtag und ist seit 2013 einer der beiden Vorsitzenden der Grünen-Fraktion.
AZ: Herr Hartmann, die Grünen wollen an Kohlekraftwerken festhalten und lehnen einen Streckbetrieb bei der Atomkraft nicht mehr ab - können Sie eigentlich noch in den Spiegel schauen?
LUDWIG HARTMANN: Ja. Wir machen das Ganze ja nicht aus Lust und Laune. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns in eine Krise gestürzt, in der niemand weiß, wie lange und wie stabil Gas geliefert wird. Deshalb rechnen wir im zweiten Stresstest jetzt alles nochmal neu durch, mit verschärften Faktoren. Mitte August soll das Ergebnis vorliegen. Dann sehen wir, wie die Lage ist und was die Netzbetreiber sagen: Geht's im Winter beim Strom? Die ersten Daten deuten daraufhin, dass es - wenn überhaupt - nur in Bayern zu einem Engpass kommen kann. Da werden die Versäumnisse der bayerischen Energiepolitik der letzten Jahre deutlich.
Hartmann: Die Grünen bleiben beim Atom- und Kohleausstieg
Die Grünen sind aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangen. BUND-Chef Olaf Bandt sieht nun den "Gründungskonsens" Ihrer Partei infrage gestellt.
Wir bleiben bei unseren Grundsätzen: beim Atomausstieg, beim Kohleausstieg, bei der Energiewende, bei den gleichen CO2-Mengen, die wir noch in die Atmosphäre pusten können, um die Klimaziele einhalten zu können. Alles, was wir jetzt bei der Kohleverstromung mehr an CO2 ausstoßen, werden wir später schneller reduzieren müssen, damit das Budget gleich bleibt. Das ist ganz klar die grüne Politik in der Bundesregierung. Wir haben das Ziel nicht aus den Augen verloren, aber die Weltlage hat den Weg dorthin etwas komplizierter gemacht.
"Ich bin nicht sicher, ob ein Streckbetrieb rechtlich möglich ist"
Richard Mergner, der Vorsitzende des BUND in Bayern, droht mit einer Klage, sollte der Meiler Isar 2 über das Jahresende hinaus am Netz bleiben. Haben Sie dafür Verständnis?
Ja - und ich bin mir auch gar nicht so sicher, wieweit es rechtlich überhaupt möglich wäre, in den Streckbetrieb zu gehen. Es gibt noch viele Unbekannte. Nur ein Beispiel: Für jedes Atomkraftwerk ist alle zehn Jahre eine große Sicherheitsüberprüfung vorgeschrieben. Bei Isar 2 war die letzte 2009. 2019, als die nächste fällig gewesen wäre, hat man sie nicht mehr für notwendig erachtet, weil das AKW ja abgeschaltet werden sollte. Im Fall eines möglichen Streckbetriebes ist zu klären, ob die Sicherheitsüberprüfung nachgeholt werden muss. Diese Frage wird die Juristinnen und Juristen mit Sicherheit beschäftigen.
Die CSU hat stets argumentiert, der Tüv Süd bescheinige, dass der Weiterbetrieb von Isar 2 problemlos möglich sei. Nun wirft ein Rechtsgutachten dem Tüv vor, diese Bewertung sei eine "schlampig argumentierende Auftragsarbeit". Was stimmt denn nun?
Dieses Tüv-Gutachten war ziemlich kurz und es stand wenig drin. Man konnte es auch so übersetzen: Wenn ein politischer Wille, verbunden mit der Bereitschaft ein höheres Sicherheitsrisiko bei Isar 2 zu tragen, vorhanden ist, wird man einen Weg finden.
Diese Möglichkeiten gibt es, um Strom zu sparen
Welche Möglichkeiten neben einem Streckbetrieb gibt es noch?
In der Industrie zum Beispiel muss doch nicht jeder um sechs Uhr morgens in die Produktion einsteigen. Macht man das zeitversetzt, könnte es das Stromproblem in Bayern gewaltig entschärfen. Auch solche Dinge kommen nach dem Stresstest auf den Tisch. Denn dann wissen wir, welche Strommenge uns fehlt, und können überlegen: Welche Möglichkeiten haben wir? Brauchen wir noch ein Kraftwerk im Streckbetrieb, schaffen wir es über Lastverschiebung oder auf einem anderen Weg?
In Frankreich kann mehr als ein Drittel der Meiler aktuell nicht betrieben werden, unter anderem, weil das Flusswasser für die Kühlung fehlt. Was bedeutet das für Bayern? Auch hier führen aktuell 90 Prozent der Flüsse Niedrigwasser.
Im Sommer hat Frankreich immer schon Probleme mit der Atomkraft - wegen des Kühlwassers und weil viele Meiler im Sommer routinemäßig in der Revision sind.
"Wasser- und Bodenkrise werden die nächsten großen Herausforderungen sein"
Trotzdem: Droht nach der Gas- nun die Wasserkrise?
Wir leben in einer Zeit, in der eine Krise auf die andere trifft: die Klimakrise, die Krise des Artensterbens, die Bodenkrise, die Wasserkrise und die Ernährungskrise, die wir unbedingt verhindern müssen. Wir dürfen aber keine Krise gegen die andere ausspielen. Deshalb müssen wir uns, wenn wir in Zukunft über Wasserkraft sprechen, auch überlegen, wie wir mehr Wasser in der Fläche halten. Aktuell ist es bei einem Starkregenereignis doch so: Das Wasser fließt ganz schnell in den Bach, von dort in den Fluss - und ist weg. Um das zu verhindern, müsste man auf Agrarland wieder mehr Hecken pflanzen, die großen Flurstücke etwas unterteilen - und Flüsse renaturieren: Der Lech zum Beispiel ist ein massiv verbauter Fluss, der mehr Fläche bräuchte, um Wasser zurückzuhalten. Wasser- und Bodenkrise werden die nächsten großen Herausforderungen sein.
Die eine Krise bedingt die andere
Befürchten Sie nicht, dass den Menschen angesichts massiv steigender Lebenshaltungskosten Umweltthemen zunehmend zweitrangig erscheinen?
Deshalb müssen wir deutlich erklären, dass eine Krise die andere bedingt: Würde man alles ganz günstig produzieren und etwa Landwirtschaft ohne Artenschutz betreiben, sterben Tier- und Pflanzenarten aus. Für 80 Prozent unserer Nahrungsmittel brauchen wir aber natürliche Bestäubung. Deshalb müssen wir Lebensräume für Tiere schaffen: Hecken am Feld oder Gehölzinseln - selbst, wenn dadurch die Ackerfläche etwas kleiner wird. Man muss das gemeinsam denken und dazu gehört auch, dass man krisenbedingte Lasten anders verteilt.
Was genau meinen Sie?
Entlastungspakete müssen in Zukunft zielgerichteter sein. Es kann nicht sein, dass jeder pauschal 300 Euro überwiesen bekommt. Wer seine Heizkosten nicht mehr bezahlen kann, soll natürlich unterstützt werden. Aber ich muss doch keinen entlasten, der gut verdient und sich in München eine 200-Quadratmeter-Dachterrassenwohnung leisten kann. Das gönne ich ihm - aber der kann seine Heizkosten auch tragen, wenn sie steigen.
Hartmann sieht "Bürgerpflicht, jetzt sparsam mit Energie umzugehen"
Was halten Sie von dem Vorschlag, an diejenigen Prämien auszuzahlen, die besonders viel Energie einsparen?
Ich finde es komisch, zu sagen: Jeder, der sich daran beteiligt, die Krise zu meistern, bekommt Geld. Man macht das doch nicht für den eigenen Geldbeutel, sondern dafür, dass bei uns in Zukunft die Versorgungssicherheit gewährleistet ist, die Industrie produzieren kann, Wohlstand und Arbeitsplätze erhalten bleiben. In meinen Augen ist es eine Bürgerpflicht, jetzt sparsam mit Energie umzugehen. Hinzukommt: 20 Prozent beim Gas oder beim Heizen kann man rein durch die Optimierung der bestehenden Heizanlagen einsparen und durch winzige Einstellungsänderungen: Ein Grad Raumtemperatur im Winter macht schon sechs Prozent des Gaseinsatzes im Haus aus. Bei zwei Grad sind wir schon bei zwölf Prozent. Wenn wir diese 20 Prozent schaffen, haben wir vermutlich keinen Engpass im Winter, auch wenn die Lieferungen aus Russland ausbleiben. Das sollten wir doch gemeinsam hinbekommen!
9-Euro-Ticket läuft aus: Bringt Söder das 365-Euro-Ticket?
Wie sparen Sie selbst?
Bei mir wurde die Anlage bereits optimiert und sogar ein Heizstrang abgeklemmt, weil die Steuerung nicht richtig funktioniert hat. Außerdem wurde die Vorlauftemperatur runtergedreht und der Warmwasserboiler läuft nicht mehr auf über 56 Grad. Das sind Maßnahmen, die man sofort umsetzen kann. Deswegen würde ich mir wünschen, dass unsere Handwerksbetriebe in den nächsten Wochen diese Kundenaufträge vorrangig bearbeiten.
Haben Sie auch Ihre Dusch-Zeit limitiert?
Ich habe immer schon sehr kurz geduscht. Bei vier Kindern in der Wohnung ist die Zeit im Bad sehr begrenzt.
Ende des Monats läuft das 9-Euro-Ticket aus. Der Ministerpräsident hat unlängst ein 365-Tage-Ticket als Ersatz gefordert. Welches Modell favorisieren Sie?
Markus Söder wollte das 365-Euro-Ticket schon im Landtagswahlkampf vor vier Jahren, hat es aber bis heute nicht umgesetzt. Aber ich bin auch ein Freund eines simplen Systems: ein Land, eine Fahrkarte. Das ist neben dem günstigen Preis der größte Mehrwert des 9-Euro-Tickets. Daraus sollten wir lernen - ob der Fahrschein dann 29 oder 69 Euro im Monat kostet. Da könnte Markus Söder jetzt mit gutem Beispiel voran gehen und in Bayern ein einheitliches Tarifsystem aufsetzen. Denn darüber entscheiden die Länder - nicht die Bundesregierung.
"Analoge Stellwerke? Völlig aus der Zeit gefallen"
Andererseits klagt die Bahn, das 9-Euro-Ticket habe zu überlastetem Personal und stärkeren Verschleißerscheinungen geführt.
Es kann doch nicht sein, dass wir die Menschen aus Klimaschutzgründen in die Züge bekommen wollen, sie dieses Angebot annehmen - und dann sagt die Bahn: Das ist uns zu viel. So geht's nicht. Man muss diese Herausforderung lösen und das Bahnnetz voranbringen. Ich könnte mir gut vorstellen, neben dem Sondervermögen für die Bundeswehr auch ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bahn-Infrastruktur aufzusetzen. Die ganzen Langsamfahrstellen, die nach dem tragischen Unfall bei Garmisch von heute auf morgen ausgewiesen wurden, zeigen doch, dass auf gewissen Ebenen bekannt ist, in welch schlechtem Zustand das Bahnnetz ist. Daran muss man etwas ändern - das Angebot für die Kunden wieder schlechter zu machen, ist der falsche Weg. Dazu gehört auch, in München die Tunnel-Brille abzusetzen und die Schwachstellen im Außenbereich zu beheben. Der Pendler von heute ist wahrscheinlich im Ruhestand, wenn der Tunnel fertig ist. Man muss aber den Menschen helfen, die in den vollen Zügen jetzt keinen Platz mehr bekommen.
Wo würden Sie ansetzen?
Nur ein Beispiel: Wir haben in Bayern teils noch analoge Stellwerkstechnik. Das mag gut sein gegen einen Hackerangriff aus Russland. Aber für die Bahn der viertgrößten Volkswirtschaft ist es vollkommen aus der Zeit gefallen.
"Die aktuelle Berliner Politik hilft Bayern"
Wer ist Schuld an der Misere?
In den letzten Jahrzehnten wurden über die CSU-Bundesverkehrsminister gewaltige Summen in die Straße investiert. Jetzt brauchen wir ein Jahrzehnt der Schiene - anders wird es nicht gehen.
Laut CSU will die Ampel in Berlin Bayern "abhängen". Sie sind Mitglied einer Regierungspartei. Was sagen Sie?
Die aktuelle Berliner Politik hilft Bayern. Die ganzen Energie-Gesetze, die in einem gewaltigen Tempo aufs Gleis gesetzt worden sind, bringen im Freistaat endlich die Energiewende voran. Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz etwa wird die Vergütung für neue Dachanlagen wieder verdoppelt. Und wo stehen die meisten Einfamilienhäuser mit viel Sonneneinstrahlung? Hier im Süden. Was in Berlin gemacht wird, ist ein Paket für Bayern.