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"Befriedigend" im Übertrittszeugnis? Das reicht in Bayern nicht einmal für die Realschule

In Bayern startet heute die Einschreibung für die weiterführenden Schulen. Geht der Weg zur Mittelschule, Realschule oder ins Gymnasium? Darüber entscheiden drei Noten im "Grundschulabitur". Das ist schon lange kein Grund zur Freude. Der Druck für die Schüler ist enorm.
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Das Übertrittszeugnis sollte eigentlich ein Grund zur Freude sein. Tatsächlich führt das "Grundschulabitur" für die Zehnjährigen in Bayern seit Jahren aber zu enormen Druck. Darüber berichten Experten und Familien regelmäßig. In Bayern ändert sich trotzdem nichts.
Das Übertrittszeugnis sollte eigentlich ein Grund zur Freude sein. Tatsächlich führt das "Grundschulabitur" für die Zehnjährigen in Bayern seit Jahren aber zu enormen Druck. Darüber berichten Experten und Familien regelmäßig. In Bayern ändert sich trotzdem nichts. © IMAGO/Thomas Trutschel/photothek.de

München - Das Schuljahr ist in Bayern noch lange nicht zu Ende. Und trotzdem halten ab heute über 100.000 Schülerinnen und Schüler ihr Zeugnis in der Hand. Ab jetzt geht es zur Einschreibung. Ein Grund zum Feiern, sollte man meinen, schließlich bringen die Viertklässler das "Grundschulabitur" mit nach Hause, wie man es hier in Bayern nennt. Klingt niedlich, ist es aber ganz und gar nicht. Dafür brauche ich nicht lange Artikel und Statistiken zum Thema wälzen, was ich natürlich trotzdem tue. Das erfahre ich direkt von meiner eigenen Tochter. Als ich sie frage, wie das Übertrittszeugnis in ihrer Klasse gefeiert wurde, antwortet sie "Papa, ich glaube, manche hatten ganz schön Angst". Angst, die Erwartungen der Eltern nicht zu erfüllen, vor den Mitschülern schlecht dazustehen, nicht auf die Wunschschule gehen zu können. Ich frage mich: Angst in der vierten Klasse, vor einem Zeugnis – darf das sein?

In Bayern ist das keine Seltenheit. Schließlich geht es um viel. Für alle, die nicht aus Bayern stammen, sich selbst nicht mehr erinnern können oder keine Kinder im entsprechenden Alter haben: Das weiße A4-Blatt mit dem blauen Rand und dem Schulstempel, das Schüler und Schülerinnen bayernweit am 2. Mai erhalten haben, ist ganz entscheidend für den Übertritt auf die weiterführende Schule. Auf dem Blatt sind nur drei Fächer aufgeführt: Deutsch, Mathe, Heimat- und Sachkundeunterricht, kurz HSU. Drei Noten, die allein über die nahe Zukunft und oft auch die ferne von knapp zehnjährigen Kindern entscheiden. Drei Noten für drei mögliche Wege. Welche das sind? Das liest man auf seinem Zeugnis unter "Zusammenfassende Beurteilung". Dort findet sich das in Bayern entscheidende und auch teils gefürchtete Lehrerurteil: "ist geeignet für den Besuch einer Mittelschule, einer Realschule und eines Gymnasiums". 

Zukunftsangst: Druck kommt auch von Eltern

Wer den Dreiklang vorfindet, der hat den Joker in der bayerischen Lebenslotterie gezogen, zumindest vorerst. Denn nicht jeder, der den Weg zum Gymnasium geschafft hat, schafft es auch auf dem Gymnasium. Trotzdem erachten Eltern die vermeintliche Nummer eins auf dem Siegertreppchen der Bildung allzu oft als einzige Option. Sei es aus Zukunftsangst um ihre eigenen Kinder, sei es aus Familientradition oder weil nur das Beste gut genug ist. Wie extrem das sein kann, hat man im letzten Jahr am Maria Theresia Gymnasium in München gesehen. Die Traditionsschule mit einer Hochbegabten-Klasse hat einen besonderen Stand bei den Eltern. Der Andrang zum Infoabend war überwältigend, nicht nur im positiven Sinne. (Die AZ berichtete). Am Ende sind es die Kinder, die dem gerecht werden müssen. Die Kosten, nicht nur die finanziellen für entsprechende Nachhilfen später, sondern auch die psychischen bei Kindern, sind nicht zu unterschätzen.

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Das Nachsehen haben aber auch die knapp 30 Prozent der Schüler, die jeweils auf der Real- oder Mittelschule landen. Das trifft gerade auf letztere zu, denn schwinden die Optionen auf der Lehrerempfehlung auf dem Übertrittszeugnis, schwinden leider auf lange Sicht auch die Zukunftsaussichten. Sich im dreigliedrigen Schulsystem nach oben zu kämpfen, ist nicht unmöglich, erfordert in Deutschland – die Herkunft und der Bildungsgrad der Eltern entscheiden hier wie in kaum einem anderen europäischen Land über die Schullaufbahn der Kinder – viel Kraft.

Was ist das also für ein Schulsystem, das Kinder in drei Stufen einteilt, von Könner bis Nichts-Könner, und das bereits nach vier Schuljahren? Das ist nicht meine Sicht, nicht auf die Realschule und auch nicht auf die Mittelschule. Aber das ist das, was mir Eltern von ihren Kindern erzählen, die vielleicht "nur" auf die Mittelschule gehen können, weil der Schnitt nicht gut genug war für Realschule oder Gymnasium. Nicht gut genug, das heißt in Bayern: Wer schlechter als 2,33 liegt, kann nicht aufs Gymnasium. Wer schlechter als 2,66 liegt – also einen glatten Dreier-Schnitt hat, der doch eigentlich mit "befriedigend" übersetzt wird – der kann nicht auf die Realschule. Bleibt nur die Hauptschule, oder wie man in Bayern seit der Namensänderung 2011/12 beschönigend sagt, Mittelschule. (Ja, es gibt tatsächlich noch die Option, einen Probeunterricht zu bestehen). Aber: 0,33 Notenpunkte machen den Laufbahn-Unterschied im bayerischen Leistungssystem.

Bayern: Spitzenreiter im Aussortieren von Kindern

Das lässt nur einen Schluss zu: Bayern ist nicht Spitzenreiter in Vergleichstests wie PISA und Co.. Bayern ist Spitzenreiter im Aussortieren, darin, Kindern im jungen Alter von zehn Jahren zu vermitteln, dass sie weniger können, unterm Strich weniger wert sind. Die Angst, von der meine Tochter berichtet hat, da ist sie wieder, und sie wird nachhaltig sein. 

Dazu kommt eine weitere Ungerechtigkeit: Die Jahrgänge, die jetzt die Schule wechseln, gehören zu den C-Klassen. Also genau denen, die einen Großteil ihrer Schulzeit unter dem Eindruck von Corona verbracht haben. Und ja, Lehrer haben in der Zeit viel gegeben, Eltern auch. Aber: Kinder, die mehr Bedarf hatten, bei Sprache, bei Mathematik oder dabei überhaupt mit der schwierigen Situation zurechtzukommen, waren – man muss es so sagen – alleingelassen. Alle schönen Worte vom Zusammenhalt in der Pandemie zählen nichts, wenn es um das entscheidende Zeugnis geht. Das Einzige, was zählt, ist die Note und wer die Leistung nicht erbringen konnte, wandert im dreigliedrigen Schulsystem dauerhaft nach unten.

Auch wenn viele Kinder vielleicht noch gar nicht wissen, was das Übertrittszeugnis für sie genau bedeutet, sie werden es in wenigen Jahren merken. Jetzt könnte man noch argumentieren, dass sich eine Gesellschaft einen solchen Umgang mit Menschen in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten kann, aber da bleibt nur zu sagen: Einen solchen Umgang mit Menschen konnte sich eine Gesellschaft eigentlich noch nie leisten. Der Blick über Bayerns und auch Deutschlands Grenzen hinaus – hierzulande trennen nur Berlin und Brandenburg nach der sechsten Klasse – zeigt schon lange, dass Schule ohne bayerischen Druck zu guten Ergebnissen führen kann. Ein Faktor: langes gemeinsames Lernen, über die vierte Klasse hinaus, gerne auch über die sechste. Vielleicht lernt Deutschland, vielleicht lernt Bayern das auch noch. Zeit wird’s.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag erschien zum ersten Mal im Jahr 2024, die Aktualität der Thematik besteht weiterhin. 

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  • Bongo vor 9 Stunden / Bewertung:

    Das Bildungssystem kritisieren nur diejenigen Eltern, die nicht einsehen wollen, dass ihr Kind nunmal keine Begabung fürs Gymnasium und ein anschließendes Studium hat.

  • MüKi vor 11 Stunden / Bewertung:

    Grundschulabitur - was für eine unsinniger Begriff. Nach einem Abitur endet die Schulausbildung, nach der Grundschule läuft sie weiter. Unterteilung in Könner - nicht Könner - alles Könner? Auch das ist unsinnig - kein Lehrer unterteilt die Kinder mit Noten in diese Kategorien. Die durch die Eltern angefeuerte Hysterie in Bezug auf das Übertrittszeugnis - das i.d.R. nur eine Empfehlung darstellt und keine Gerichtsurteil ist - ist vollkommen unangebracht. Der Druck entsteht durch die Elternschaft, sie alleine können ihren Kindern den Druck nehmen. Mit alle Gewalt aufs Gymnasium? Was für ein Irrtum, richtet nur Schaden an. Lasst die Kinder nach ihren Fähigkeiten leben, lernen und unterstützt sie dabei nach Kräften. Fördert und Fordert sie aber lasst den Druck durch die Eltern nicht zu groß werden, das bringt nichts. Immer nur die Schuld bei den andern suchen - in dem Fall beim Schulsystem? Naja, fragwürdig. Das Leben entschieden nach dem Übertrittszeugnis? Was für ein Schmarrn!!!

  • HMJS am 12.05.2024 23:28 Uhr / Bewertung:

    Wenn man die Entwicklungen im gesamten Bildungssystem der letzten Jahrzehnte betrachtet, dann sind alle "Notendurchschnitte" sowie jeder Numerus Klausus für sich genommen kläglich gescheitert. Aber die Kultusminister der Länder sind so borniert und beratungsresistent, dass sie sich permanent als Stellverteter eines Deutschlands sehen, einem Land der Dichter und Denker. Niemand redet über die Gescheiterten und über die zahlreichen "Psychowinner", die allesamt kaputt sind und ihre "Untergebenen" danach auch kaputt machen. Schweden macht es mal wieder allen vor. Aber "WER SIND SCHON DIE SCHWEDEN"???

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