Kriegsrecht über Fürth

Uraufführung der Musik-Revue „Bahn frei!“: Ewald Arenz und Thilo Wolf auf den Spuren des „Adler“
von  Abendzeitung
Bitte alle zum Finale: „Bahn frei“ für die Revue rund um die erste Fahrt des „Adler“ in der Nachbarstadt.
Bitte alle zum Finale: „Bahn frei“ für die Revue rund um die erste Fahrt des „Adler“ in der Nachbarstadt. © Theater Fürth

Nürnberg - Uraufführung der Musik-Revue „Bahn frei!“: Ewald Arenz und Thilo Wolf auf den Spuren des „Adler“

Zweifellos ein ungewöhnlicher Gedanke, das 175. Jubiläum der Ludwig-Eisenbahn von ihrer Pleite her zu feiern. Also quasi den 88-jährigen Stilllegungs-Geburtstag zum Fest zu machen: Gedenkstunde für a schöne Leich! Ewald Arenz (Text) und Thilo Wolf (Musik), seit dem ortsgebundenen Erfolg mit „Petticoat und Schickedance“ das Autoren-Traumpaar für Hausgemachtes, rattern im Auftrag des Fürther Stadttheaters mit ihrem Spektakel „Bahn frei!“ über Nebenstrecken der Zeitgeschichte. Dass Präsidenten und Könige zwischen Europa und USA den dampfenden Fortschritt blockierten, ist da zu erfahren. Aber auch, warum Nürnberg das Kriegsrecht über Fürth verhängte und wieso dieser reizvolle Zustand nicht von Dauer war. Weil es eine „Musik-Revue“ ist, kann ein Nummerngirl bei der Zuordnung von Jahreszahlen oder Handlungsorten helfen. Da ist der Beifall sicher.

Die Erotik der Pufferküsser wäre wohl nicht abendfüllend, die Rechte fürs Wettrennen zwischen Dampflok und ICE liegen beim „Starlight Express“ – also hat Ewald Arenz eine Liebes- und eine Lebensgeschichte in dicken Knoten um seinen Schienenersatzverkehr geschlungen. So wird die emanzipationsgestählte Nachtklub-Sängerin (das Wort Suffragette lädt zum Reim auf „nett adrette“ ein) zur hauptberuflichen Schaffnerin und lässt sich in aller Bein- und Gedankenfreiheit vom kommunikativen „Adler“-Direktor die Biografie eines scheiternden Branchen-Pioniers erzählen. Jener einst real existierende Friedrich List, der in den Gründerjahren mit singender Tochter und einem Bauchladen voller Glauben an die Technik jener Zeit so weit voraus ist, dass er ihr am Ende abhanden kommt. Derweil überlebt das ungleiche Paar sogar die kleine Nachkriegs-Revolution. Fürth räterepublikanisch, Nürnberg regierungstreu, Liebespaar gesangsvereint. Bitte alle zum Finale!

Autor Arenz sucht Abstand zum Kabarett, hat aber die Dialoge der Sympathieträger mit seiner höchstpersönlichen Ironie durchparfürmiert und lenkt sie in allen Stimmungslagen über ruckartig wechselnde Schauplätze. Komponist Thilo Wolf hält Maßkonfektion für jeden Anlass auf Lager, kann Tango und Kampf-Song ebenso wie Musical-Marschtritt oder ein Putzfrauen-Couplet. Das klingt mit dem angenehm entspannten BigBand-Blubbern des erstklassigen Orchesters sehr professionell – aber oft wie nachgestanzt. Wenn er sich mit Arenz zusammen von der schrägen Show trotz diskreter Sehnsuchtsblicke zu Stephen Sondheims Singspielerei in Richtung webbernder Jammer-Poesie entfernt und Depression ausbricht, gibt es Vollbad im Schnulzen-Schaum. Das Finale wischt alle Tränen weg, aber bis dahin wird viel heiße Luft hochgewirbelt.

Regisseurin Nilufar K.Münzing bewegt ein beachtliches Musical-Ensemble (vor allem: Gerd Achilles und Anna Müllerleile als Liebespaar mit Standort Gostenhof haben Kehle und Kniekehle gut im Griff) mit Hilfe von Choreographin Jean Renshaw unfallfrei über breite Revue-Treppen. Mit der eigentlichen Hauptfigur, dem chronisch scheiternden Ur-Netzwerker Friedrich List, kann sie jedoch nicht mehr anfangen als der Autor, der ihn mit spitzen Fingern in den Freitod hinter die Bühne transportiert. Die Weltreise führt zur Sackbahnhofsmission. Dass der Adler sterben musste, weil die Leute lieber mit der Straßenbahn fuhren, gehört weiterhin nicht zu den großen Tragödien der Weltgeschichte. Gut so, sonst müssten wir jetzt eine Revue über die Tragik der Tram nach der U-Bahn-Eröffnung fürchten. Dieter Stoll

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