Immer mehr Nürnberger sind zu arm für ihre Medikamente
Die Stadtmission schlägt jetzt Alarm: Über 50.000 Menschen müssen um ihre medizinische Grundversorgung bangen.
NÜRNBERG Elise Meier (Name geändert) ist 74 Jahre alt, lebt von ihrer kleinen Rente und Sozialhilfe. Die Wohnung teilt sie sich mit ihrem behinderten Sohn. Monatlich stehen ihr 260 Euro zur Verfügung – zum Füllen des Kühlschranks, für Kleidung – und um ihre Artzney zu zahlen. Denn Frau Meier ist schwer krank.
Bei einem Treppensturz brach sie sich die Wirbelsäule, muss seitdem ein Stützkorsett tragen, braucht Schmerztabletten. Kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, ist auf Blutverdünnungsmittel und Herzmedikamente angewiesen. Zuletzt wurde die sehbehinderte Frau an beiden Augen operiert – auch dafür musste sie bezahlen. Jetzt ist Elise Meier finanziell am Ende. Das Geld für die lebensnotwendigen Artzney bringt sie nicht mehr auf. Neben den komplizierten Zuzahlungsregelungen der Kassen fallen rezeptfreie Artzney komplett aus dem Raster: Nach einem aktuellen Urteil des Bundessozialgerichts müssen sie die Kassen nur in wenigen Einzelfällen übernehmen.
„Die Drei-Klassen-Medizin ist Realität"
Für Angelika Wippert von der Nürnberger Stadtmission „ein Skandal“, „eine Schande“. Und alles andere als ein Einzelfall. Seit 1. Juli stehen HartzIV-Empfängern für „Gesundheitspflege“ monatlich exakt 12,89 Euro zur Verfügung. „Dass arme Leute auf Artzney verzichten müssen, erlebe ich jeden Tag“, sagt Wippert. Betroffen sind nicht nur Senioren mit minimaler Grundsicherung (in Nürnberg 5816 Menschen) und 47435 Hartz-IV-Empfänger. Sondern auch Freiberufler, Kleinselbstständige, die oft nicht wissen, wie sie die monatlichen Beitragssätze für ihre Pflichtversicherung aufbringen sollen.
Dieter H. (30) zum Beispiel. Der freiberufliche Grafiker hatte im vergangenen Monat Zahnschmerzen, konnte aber zuvor zwei seiner Beiträge nicht überweisen. „Die Sprechstundenhilfe wollte mich gar nicht ins Wartezimmer lassen“, berichtet er. Den Notfallbehandlungsschein konnte er bei seiner Kasse an diesem Tag nicht mehr auftreiben – und muss die Behandlung nun selber tragen, obwohl er die säumigen Beiträge noch am gleichen Abend überwies.
In den Augen von Angelika Wippert ist das deutsche Gesundheitssystem bald auf dem Niveau von Schwellenländern: „Die Drei-Klassen-Medizin ist Realität.“ Eine Minderheit kann auf „Individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGeL) inklusive Chefarzt-Behandlungen, zurückgreifen. Die breite Mehrheit ist gesetzlich versichert – und immer mehr Arme sind auf Almosen angewiesen, den Fördertopf der Stadtmission zum Beispiel.
Einen desolaten Sozialstaat freilich kann der auch nicht ersetzen.
Steffen Windschall
- Themen: