Im Rückwärtsgang durch die Erbmasse
NÜRNBERG - Die britische Band Jethro Tull um Frontmann Ian Anderson stöberte im Nürnberger Serenadenhof auffällig im Karriereanfang.
Am Ende des Konzerts, als sich mit „Locomotive Breath“ nochmal dichte Evergreen-Energie über den ausverkauften Nürnberger Serenadenhof legte, watschelt Ian Anderson, die alleinige Querflöten-Partei der Rockmusik, im Rückwärtsgang an der glückseligen Menge vorbei. Rückwärts in die Zukunft – das passt als Symbol-Bewegung für die britische Band Jethro Tull, die in der Abendsonne ihrer Karriere Legendenstatus und Erbmasse pflegt. Was die Stimmkraft der 62-jährigen Identitätsfigur angeht, ist Pflege auch nötig.
Schon deshalb trägt die Band um Gitarrist Martin Barre den Chef, der bei der Neverending Tor-Tour regelrecht nach hohen Tönen schnappt, auf Fingerspitzen. Der Gesamtsound wurde auf sanften Kammerrock gedrosselt. Das ergibt bluesige Behaglichkeit nicht nur bei der frühen Roland-Kirk-Hommage „Serenade to a cuckoo“ von 1968. Es ist der Sound des Schwarzweiß-Fernsehens, der Songauswahl und Sichtweisen bestimmt: „It was a new day yesterday and it’s an old day now.“ Öfter mal was Uraltes.
Auch den „schlechtesten Song, den ich je geschrieben habe“ fädelt Ian Anderson, bei seinen ironietriefenden Ansagen ganz der Alte, ein. „Back to the Family“ heißt der vermeintliche Maso-Streich, der zwischen „Bourrée und „Fat Man“ nicht aus dem Zeit- und Qualitätsrahmen fällt. Das Stöbern im Karriereanfang zwischen Jazz und Folk ist Jethro Tulls subtile Form von Verweigerungshaltung, bevor die Nostalgie-Schleusen geöffnet werden. Mit „Heavy Horses“, „Aqualung“ und „Thick as a Brick“, jener Suite mit „verzweifelten Prog-Rock-Momenten“, wie Anderson über seinen Klasse-Klassiker lästert. Also, Humor hat Anderson immer noch. Andreas Radlmaier
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